Auch unsere Zeit kennt Tabus. Unter anderem den Nervenzusammenbruch. Solche Vorkommnisse schotten wir peinlichst berührt gegen Andere ab. Ingmar Bergman liefert eine Handreiche, wie man diese Angelegenheit so begreifen kann, dass sie in ihrer Blösse als völlig natürlich erscheint.
Bergman erzählt die Geschichte der Psychiaterin Jenny, die selbst in eine Krise gerät, jedoch die Anzeichen genauso missachtet wie ihre Patienten im Vorfeld ihres Zusammenbruchs. Zufällig übernachtet sie bei einem Freund, nimmt Schlafmittel, die sie verwirren, statt sie in den Schlummer zu wiegen. So befällt sie ein Nervenzusammenbruch. Bergman lässt die volle Zeit verstreichen, die dazu nötig ist. Als Filmpublikum sind wir genötigt, das Geschehen in Echtzeit mitzuerleben. Denn es geht weiter. Der Anfall verklingt, Jenny ordnet sich sogleich, beschwichtigt, es sei nur eine Schwäche, die vorübergeht. Sie kämmt, glaube ich, ihr Haar, geht im Kopf die Termine von morgen durch, beschliesst, doch nach Hause zu fahren und macht sich bereit. Doch erneut brandet der Zusammenbruch heran. Er packt sie, schüttelt sie durch, heftiger als zuvor. Eine schauspielerische Glanzleistung von Liv Ullmann.
Man hofft auf einen erlösenden Schnitt, aber der bleibt aus. Bergman scheint, genau wie sein Ziehsohn Lars von Trier, uns klarzumachen, es gebe Leute genug, die solche Schicksale durchzustehen haben, von denen ihre Filme handeln. Also wäre es für uns bislang Verschonte nur anständig, wenn wir so lange teilnähmen, wie das Leiden eben dauert.
Der Zusammenbruch durchläuft mehrere Wellen. Dazwischen bäumt sich Jenny dagegen auf, um sich, wie beschrieben, wieder in Ordnung zu bringen und abzuwiegeln. Immer wieder betont sie, nun sei es vorüber, um dann doch erschüttert zu erleben, wie sich ein nächster Schub anbahnt, der sie wie ein heftiger Schüttelfrost in Besitz nimmt.
Nicht wir bestimmen, wann genug ist.
Jenny rationalisiert sich, heisst es. Ein Vorgehen, das seit Freud als Abwehr bekannt ist. Das Ganze spielt sich im Schlafzimmer des Freundes ab. Dieser nimmt das Geschehen einfach hin, ist bloss da, spricht kaum, allerdings immer ihr zugewandt. Seine Ruhe entscheidet nach meiner Lesart darüber, wie die Szene zu deuten ist. Er könnte in Panik geraten, seiner Freundin sogar Verwürfe machen, dass sie ihm in den eigenen vier Wänden diesen Stress zumutet, könnte verunsichert herumrennen und alles Mögliche alarmieren oder vor Schreck nur erstarrt dasitzen. Also in der Art, wie man in der Regel einen Nervenzusammenbruch erwidert. Aber er nimmt gelassen hin, was mit ihr geschieht, bleibt bei ihr, wobei er sich weise untersteht, ihr Fragen zu stellen. Seiner Ruhe wegen erkennt man den Nervenzusammenbruch von einer anderen Warte aus.
Auf einmal erscheint er als eine Art Erbrechen.
Ein mentales Erbrechen.
Und alles Schütteln und Zucken und Herausprusten und Glucksen, das uns so peinlich berührt, erweist sich auf dem Hintergrund bestimmter Yoga-Praktiken als Heilung.
Was Jenny widerfährt, ist weder Krankheit noch Wahnsinn, sondern ein Heilprozess, der sie als ganze Person erfasst. Wir sind es uns nur nicht gewohnt.
Das wäre alles.
Geistiges Erbrechen wäre als Deutung auch deshalb naheliegend, da Bergman in einem anderen Film eine Figur aus Wut Holzscheite spalten lässt. Eigentlich müssten sie an den Seiten vom Stock fallen und sich beidseitig anhäufen. In einer Totalen aber sehen wir, dass die Scheite so daliegen, als wären sie vom Stock weg in einem weiten Strahl hingekotzt worden.
Als Zeitgenossen der Moderne geraten wir in Panik, wenn wir die Kontrolle über intime Abläufe verlieren. Jedoch das meiste, das in Schüben brandet und versiegt, entzieht sich unserem Willen: Erbrechen, Weinen, Wehen, Blutfluss bei der Mens, die Gezeiten, Fieberschübe, multiple Orgasmen, auch für Männer, wenn sie ihre Prostata kennen, Wachstum, Sterbensprozesse, Kriege, Kulturbögen in der Geschichte.
Das Leben kommt und geht in Wellen.
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