Wie leiden Menschen? Was für eine Frage! Tiere halten still, während sie Höllenschmerzen ausstehen. Was sie empfinden, wissen wir nicht. Zwar wirken sie in sich gekehrt, aber sie zeigen kein Verhalten, das uns Anlass gäbe, zu unterstellen, sie seien deshalb wütend oder verzweifelt und dem Irrsinn nahe wie wir, wenn wir chronische Belastungen ausstehen. Bei Menschen kommt zum blossen Schmerz noch Einiges dazu. Und das verändert ihn. Also den Schmerz.
Die gegenwärtige Forschung scheint das Ziel zu verfolgen, den Schmerz zu messen. Das erfordert viel Arbeit am Gehirn. Irgendwann wird die Ärztin einem Patienten eröffnen: Sie leiden Schmerzen von der Stärke 5 Komma 3 Dolor. Das wäre dann einerseits Grund, Nachsicht zu üben und ein entsprechendes Mittel einzusetzen, andererseits aber der Person klar zu machen, dass sie übertreibt. Hoffentlich kommt es nie so weit. Denn die Geisteswissenschaft, so sehr sie ausser Mode geraten ist, hat ein gewichtiges Wort zu Schmerz und Leid beizusteuern.
Denn wir Menschen leiden nicht nur Schmerz, wir bewerten ihn auch.
Und für diese Bewertung gibt es keine Daten. Dafür ist die Geisteswissenschaft zuständig, mit der empirischen Sozialforschung im Schnittbereich. Vorerst ein Beispiel: Ein Kleinkind bricht abends in Tränen aus. Es schreit herzzerreissend. Nach Ausschluss der Gründe, die in Frage kommen, bleibt übrig, dass das Kind mit der Dämmerung nicht klarkommt. Das Beispiel ist deshalb aufschlussreich, da ein körperlicher Schmerz ausgeschlossen ist. Die Not kommt dadurch zustande, dass das Kind die veränderten Umstände mit der vormaligen Situation vergleicht.
Dieser Vergleich bedeutet eine Verstandesleistung. Je nach Ergebnis bewirkt er Freude oder Leid.
Beim Skifahren bricht sich eine Schülerin den Arm. Sie hockt im Schnee, sie jammert verzweifelt, während die anderen betreten herumstehen. Der Vergleich, den das Mädchen zieht, betrifft nicht nur die Situation vorher, als sie freudvoll die Hügel hinuntersauste, er rechnet auch vor, was ihr nun alles blüht, die Fahrt mit dem Schlitten, von der man sagt, sie sei durchaus unbequem, die Einlieferung, möglicherweise ein Eingriff unter Narkose. Der Vergleich geht noch weiter. Nämlich:
Ich bin alleine mit diesem Schmerz. Mit dieser Klarheit hat die Schülerin zu tun.
Einsamkeit beeinflusst massgeblich, wie wir einen Schmerz bewerten, den wir erleiden. Die Lehrkraft weist die übrigen Kinder dazu an, während sie den Schlitten bestellt, sie mögen sich zum Mädchen nahe hinzusetzen. Das geschieht sofort. Sie schnallen die Skier ab, hocken sich im Kreis um sie.
Und das Leid verfliegt im Nu. Das Mädchen reisst sogar Witze.
Man gewinnt den Eindruck, die Einsamkeit sei das Schlimmste am Schmerz.
Wir vergleichen Situationen andauernd miteinander. Was ist besser geworden? Was schlechter? Der Vergleich beschränkt sich nicht auf Erinnerungen, sondern zieht auch Ideale bei, phantomhafte Überzeugungen, die mit der Zukunft zu tun haben. Jemand klagt, er habe sich die Ehe anders vorgestellt, auch das Familienleben. Ferien geraten zu einer Enttäuschung, da der Vergleich erbarmungslos an einem Urlaub hängen bleibt, der vor Jahren für Bestnoten gesorgt hat.
Dieser Vergleich geschieht blitzartig. Wie alles, was mit dem Verstand zu tun hat. Er befällt uns, und wir schütteln ihn nicht ohne Weiteres ab. Er macht Vieles möglich, was man als kulturelle Evolution zusammenfasst. Aber er verhindert auch Vieles.
Ohne Selbstverleugnung jedenfalls werden wir ihn nicht los.
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