Jede einzelne Lebensform verkörpert eine Eigenart, die von einer bestimmten Norm abweicht. Manche Leute meinen vielleicht, die Natur wäre ausserstande, ein uniformes Lebewesen mit der gleichen Fitness und den immer gleich ausgeprägten Eigenschaften hervorzubringen. So erklären sie den Individualismus in der Natur: Als ein Mangel an Genauigkeit in der Reproduktion. Sehr wahrscheinlich aber ist im natürlichen Individualismus, wie so oft bei Angelegenheiten des Lebens, eine klare Funktion zu sehen.
Wenn man zum Beispiel mitverfolgt, wie gewisse Lebensformen sich an die Verhältnisse anpassen, die in Städten herrschen, deutet sich eine mögliche Antwort an. Die Motten zum Beispiel ziehen den Lichtern nach. Nun gibt es darunter einzelne Exemplare, die in dieser Sache empfindlicher sind als andere. Sie kommen rasch an der Lampe um, pflanzen sich nicht fort. Andere, die von Geburt her grobfühliger sind, überleben und sorgen für eine Nachkommenschaft, die sich verbreitet. Dadurch häuft sich diese besondere Widerstandsfähigkeit unter Stadtmotten. Füchse, die von Natur aus eine kürzere Schnauze haben und einen breiteren Schädel, überleben in der Stadt besser, da sie Verpackungen aufzureissen in der Lage sind. So kommt es, dass sich vermehrt Stadtfüchse durch genau diese Merkmale von den Kollegen auf dem Land unterscheiden. Man hat festgestellt, dass bestimmte Fische in vergiftetem Wasser munter überleben, während andere schon in ihren Eiern verkümmern. Das Resultat ist verblüffend: Die meisten Fische gehen nicht unmittelbar am Gift zugrunde, sondern an ihrer Abwehr dagegen, die aus dem Ruder läuft und das Lebewesen überfordert. Es sind dann die Fische mit gemässigter Abwehr, die sich weiter fortpflanzen. Zu solchen Anpassungen dank natürlicher Abweichung liessen sich Beispiele zuhauf anführen. Ein natürlicher Individualismus versteht sich demnach nicht als Störung einer Norm oder als natürlicher Schwachpunkt schlechthin.
Vielmehr bedeutet die persönliche Eigenart eine mögliche Norm, die sozusagen in Bereitschaft bleibt, damit sie auf gewisse Umweltveränderungen Antwort gibt.
Die individuelle Note alles Lebendigen steht demnach nicht wesenhaft für sich selbst, eben als Laune oder Spielerei des Lebens, sondern hängt mit der Tatsache zusammen, dass die Umwelt sich von jetzt auf gleich verändern kann. So gesehen besteht also kein ernsthafter Grund, dass wir um das Individuelle an uns Menschen einen derartigen Kult betreiben, wie er seit der Romantik, sicher aber seit der Postmoderne gängig ist. Man müsste betonen: Die Eigenart, die du als deine persönliche Note auslebst, mag dir ein erstklassiges Ich-Gefühl bescheren. Tatsächlich hat es mit dir nicht viel zu tun, sondern damit, dass es eine Eigenschaft darstellt, die bei entsprechender Umweltveränderung sich in deiner Population womöglich als Norm durchsetzen wird. Wenn man zudem die kulturelle Evolution bedenkt, die unter uns spielt, so handelt es sich dabei um enorm wechselhafte Umwelten, auf die unterschiedliche Eigenarten ansprechen: Wir müssen mehr oder weniger gut rechnen, mehr oder weniger gut uns in andere einfühlen, mehr oder weniger gut sozial verträglich sein, mehr oder weniger gut resilient sein, mehr oder weniger gut empfänglich sein für Diverses und so fort.
Die persönliche Eigenart ohne Umweltveränderung ist so gesehen ein Leerlauf des Lebens.
Was für sich genommen auch wieder normal ist: Denn Vieles, was das Leben hervorbringt, erfüllt seinen Zweck bloss als Möglichkeit in Bereitschaft.
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