Gewisse Anliegen erleiden eine Entwertung, wenn man sie auf Biegen und Brechen in der Gesellschaft durchsetzt. Im Übereifer von Regulierung und Bürokratie werden sie ordnungsgemäss verschlissen. Das betrifft etwa das wichtige Anliegen, dass man Rückmeldungen abgibt und annimmt.
Die alten Autoritäten sind abgehalftert: Pfarrer, Arzt, Lehrer, Bürgermeister. Kritik prallte an ihnen ab. Mehr noch, sie sorgten dafür, dass keine aufkam. Also beanspruchten sie Unfehlbarkeit. Das liegt auch daran, dass die Leute ihnen allerorten kniefällig begegneten. Kein Mensch auf Augenhöhe. Daher vereinsamten sie früher oder später. Und in ihrer Einsamkeit naschten sie Belohnung, wo es ging, und übten bittere Willkür.
Gewiss haben manche dieser Autoritäten ihr Amt leider persönlich genommen. Sie sonnten sich in einem Selbstwert ge, um den sie beneidet wurden. Andere duldeten keine Kritik aus der Sorge um die Wirksamkeit ihres Postens. Immunität gegen Einspruch erachteten sie als Pflicht. Mit ihrem verpfuschten Ansehen verlöre das Amt seine Einflussnahme und die Leute die Orientierung.
Als wären sie Schafe.
Damit ist nun Schluss. Rückmeldung, sprich Kritik wirkt wie das Schmierfett im Motor von Aufklärung und Fortschritt. Kant hat in etwa gesagt: Gehorche im Beruf, übe Kritik als Privatperson. Wer die gegenwärtige Cancel Culture mitbetreibt, meines Erachtens ein Anzeichen allgemeiner Nervosität, hat davon nichts verstanden. Diese Unkultur, dass man jemanden nur aufgrund von blossen Anzeichen mundtot macht, finde ich jedoch deshalb bemerkenswert, da in Alltag, Bildung und Beruf genau das Gegenteil Überhand genommen hat:
Der Cancel Culture steht eine grassierende Rückmeldungskultur gegenüber. Vielleicht bestehen da ungeahnte Zusammenhänge.
Das macht die Sache leider nicht besser. Um so mehr ist das Anliegen erneut zu betonen, das dahinter steckt, wenn man Kritik bejaht: Kein Machtmissbrauch mehr infolge Eigenbrötlerei, keine überhebliche Beliebigkeit mehr, wie sie Autoritäten gerne ausspielen. Man hat auch festgestellt, dass gewisse Gruppen, in denen andauernd Einigkeit herrscht, in die immer gleiche Richtung driften. Irgendwann gerät ihnen das Steuer aus der Hand. Oder sie werden kaltgestellt. Diktaturen ergeht es so. Überhaupt Politikern, die zu lange an der Macht sind. Mir scheint, auch Autoren eines Lehrmittels bilden so einen Klüngel, wo man unter Ausschluss der Öffentlichkeit sich hemmungslos entfaltet.
Das Leben kann mit nur einer Richtung dauerhaft nichts anfangen. Das gilt für viele seiner Belange.
Die Rückmeldungen ergeben einen roten Faden. Also ein statistisches Mittelmass, das eine Änderung im Verhalten nahelegt. Je mehr Rückmeldungen, desto sachlicher wird dieser Wert. Dennoch rede ich von einer Rückmeldungsunkultur. Das liegt nicht am Anliegen, sondern an seiner Durchsetzung. An Hochschulen geben sie Formulare aus, wo für die Rückmeldung an die Leitung des jeweiligen Moduls eigens ein Block freigehalten wird. Dieser ist in drei Teilen gegliedert, da eine Kritik in drei Unterpunkten gefordert wird. Nicht mehr und nicht weniger. Warum genau drei, wird nicht mitgeteilt. Die Verantwortlichen kennen die Gründe, das reicht. Es kann sein, dass die Punktevergabe leidet, sollte der Block leer bleiben. Drei Felder, das ergibt vielleicht eineinhalb Punkte Abzug. Mir ist zu Ohren gekommen, die Absolventen einer Hochschule müssten sogar eine Busse bezahlen, sollten sie ihre Rückmeldung auf das geforderte Datum hin versäumen. Keine Frage, dass sie dann etwas Weichgespültes zurückmelden, das keinen Aufruhr verursacht.
Die Busse bleibt aus für etwas, das völlig wertlos ist.
Diese Praxis erscheint selbst als eine Art Cancel Culture. Ein Anzeichen wie falsche Wortwahl oder leerer Block im Formular tritt von selbst eine harte Massnahme los. Ohne Nachfrage, ohne genaueres Hinsehen.
Dabei zeigt sich: Eine Kritikabgabe unter Zwang bedeutet Bevormundung. Wie alles, was mit Zwang zu tun hat. Eine Bankrotterklärung an die Moderne. Das wäre das eine Gesicht dieser Unkultur.
Angenehmer sind die Aufforderungen zur Rückmeldung, wenn ein Dienstleister nach einem bisschen Wertschöpfung, die er ausgeführt hat, sogleich die Kundenmeinung einholt. Meistens auch nur mittels Algorithmus, sprich automatisch wie bei den Regularien von Hochschulen. Diese Aufforderungen lassen sich folgenlos wegklicken. Letzthin jedoch bat mich ein Berater am Telefon nach geglückter Wiederinbetriebnahme der TV-Box, ich möchte doch seinen Dienst mit Bestnoten quittieren. Dazu nannte er mir zweimal seinen Namen. Das hat mich sehr bewegt. Entlöhnung und Anstellung dieses Mannes scheinen unter anderem von meiner Rückmeldung abzuhängen. Hätte ich die Nerven verloren, wäre er unter Druck geraten, obwohl sein Vorgehen das Gleiche gewesen wäre. Und ich hätte ihn entsprechend abgestraft. Seither habe ich mir angewöhnt, im Rahmen all dieser New Economy nur Bestnoten abzugeben. Egal, wie die Dienstleistung ausfällt. Diese Rückmeldungsunkultur macht Kunden zu absoluten Herrschern, die verfahren, wie ihnen gerade danach ist. Wehe dem gehetzten Lieferanten, wenn Kaffeeflecken auf der Pizzaschachtel prangen.
Diese Unkultur hat völkische Ausmasse angenommen. Die alten Autoritäten erstehen neu, aber an einem völlig anderen Ort.
Und das wäre ihr zweites hässliches Gesicht.
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