Unter uns herrscht ein beachtliches Getue ums Ich. Wer bin ich? Was ist der Sinn meines Lebens? Was  meine Berufung? Diese Sorge ergibt sich aus gesellschaftlicher Entlastung. Sie verdankt sich einem Wohlstand, den die Nachkriegszeit herangespült hat. Nun fragt man sich, wie lange diese Schönwetterlage wohl anhält. Das Gewese ums Ich jedenfalls tönt unbeirrt fort. Eine ganze Industrie von Beratung verschiedenster Ausrichtung nutzniesst davon beträchlich. Eine gewisse Bescheidenheit wäre in dieser Sache anzuraten. Aber das klingt schon sehr altbacken.

Wie auch immer. Agrargesellschaften im Dauernotstand war die Sorge ums Ich unbekannt, soweit sie den täglichen Bedarf überstieg. Glaubensfragen betrafen nicht nur die schwierige Eigenart einer Person, sondern den Platz, der ihr in einem Weltganzen zukommt. Das war für alle der Sinn ihres Lebens. Die Sorge ums Ich, wie sie uns heute umtreibt, ob an mir vielleicht ein Künstler verloren gegangen ist oder ein Homosexueller oder ein Geschäftsführer oder ein biologischer Vater, halte ich keineswegs für falsch. Die Bescheidenheit, die ich meine, soll dort ansetzen, wo wir der Überzeugung sind, wir seien auch Urheber unseres Ichs. Das wäre zunächst ein Widersinn: Wer bin ich denn, wenn ich zugleich mein Autor sein soll? Das scheint jedoch die Wenigsten zu beeindrucken. Das, was wir für unser Ich halten, ergibt sich aus einem verquickten Wechselspiel von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung. Ein Beispiel: In meiner Kindheit fiel an mir auf, dass ich die Seiten eines Zeichenblocks vollständig ausfüllte, bevor ich eine neue anfing. Auch die Zeichnungen selbst veranlassten Erwachsene zu unbeschränkter Zustimmung. Damit richteten sie mich aus. Von nun an zeichnete ich, um diese Zustimmung einzuholen. Dadurch verbesserte ich diese Fertigkeit sozusagen nebenbei. Umgekehrt wurde ich beargwöhnt, wenn es darum ging, in sachlichen Einzelheiten genau zu sein. Mein Vater, eher Mathematiker und Techniker, ebenso Lehrkräfte in Schlüsselpositionen blieben auf Abstand zu dem verträumten Jungen, der sich auf seine künstlerische Ader mehr als genug einbildete. Keine Frage, dass ich später für mein Ich in Anspruch nahm, es sei halt wenig dazu geeignet, Tabellen, Kalkulationen und Listen sauber abzuarbeiten. Vielleicht wäre ich zufällig auf diesen Weg gekommen, hätte man mir weniger brutpflegetriebhaft beim Zeichnen auf die Schultern geklopft.

Echokammer nennt man diese Situation: Jemand hält eine Rede, der Beifall der Zuhörerschaft verstärkt seine Botschaft, spitzt sie zu. Oder jemand spielt auf, erntet Begeisterung. Bestimmt hat Mozart Effekte seiner Musik bei Zuhörern genau studiert und entsprechend verfeinert. Die Plattitüde des Künstlers passt hierher, der keine Welt mehr nötig hat und sich in der Urheberschaft seines Ichs geradezu verklärt. Auch Mozart war davon nicht gefeit. Man nahm es ihm schwer übel.

Hochdekorierte Künstler müssten bekennen: Eben diese Welt hat mein Ich so hochgezüchtet.

Mittels Auslese durch Bestätigung und Ablehnung.

Picasso wäre mit seinem Kubismus ein halbes Jahrhundert früher als Wahnsinniger abklassiert worden. Diese unverdiente Begünstigung betrifft viele. Natürlich soll man seine Eigenart an sich gewärtigen, die uns von anderen Personen unterscheidet. Aber die ist von Natur aus gegeben. Sie ist die richtige Urheberschaft. Man darf seine Eigenart feiern, aber mit eben dieser Umsicht. Dazu gehört, dass man in seiner Selbstgewissheit andere mitbedenkt, die am Buffet der Natur kaum etwas zu naschen bekommen haben. Auch ist Rückschau zu halten auf die Reihe von Echokammern, in der man wie in einer Art Brutkasten gross geworden ist. Auch unter anderen Lebewesen spielt diese Echokammer eine wesentliche Rolle: Ein Jäger lernt sich anzuschleichen, indem er sein Vorgehen mit dem Verhalten seiner Beute abgleicht. Auch das wäre ein Grund für diese Umsicht. Bescheidenheit klingt altmodisch. Die Antike kannte die Tugend der Mässigung. Die Moderne nimmt darauf sachlicherweise keine Rücksicht. Nun ergibt sich eine Möglichkeit für sie, also für uns, diese Moral ohne Religion in ihrem Weltbild zu verankern, nämlich mittels Argumenten. Etwa so:

Bilde dir nicht zuviel ein auf dein Ich. Es ist wesentlich das, was andere an dir verstärkt haben. Entweder war es ihre Zustimmung, die dich süchtig machte.

Oder aber sie lehnten dich derart ab, dass du im Trotz gegen sie eine beinahe unersättliche Nahrungsquelle für dein Ich gefunden hast, die im dümmsten Fall zeitlebens anhält.

Dennoch: Auch diese Sorge ums Ich hat einen Zweck. Ganz einfach der: Wer sich um sein Ich abmüht, pflegt ein Stück Leben.

Und damit das Leben selbst.