Das Leben stösst in Möglichkeitsräume vor und besetzt sie vollständig. Bei Gefahr verlässt es die angestammte Sphäre unter Inkaufnahme völliger Unangepasstheit an die neue Umwelt. Diese Transzendenz spielt auch in der Kultur eine Rolle. David Attenborough liefert eine Formel dazu: Bei Menschen braucht es keine mühselige  Anpassung über Generationen hinweg. Es reicht eine Idee, sagt er. Ein Einfall, eine Ahnung.

Irgendwo griff ich eine Aussage auf, die hierher passt. Nämlich: Das unbefriedigte Denken flieht in andere Sphären. Bei dieser Transzendenz spielt also Gefahr als Ursache keine Rolle. Es sei denn, man stimmt darin überein, dass bereits Langeweile oder sonstige Unzufriedenheit als Infragestellung der persönlichen Identität erscheint. Eine Art weiche Gefahr somit.

Bei der Kunst zeigt sich diese Transzendenz beispielhaft. Greifen wir ein paar Beispiele auf: Wenn Musiker auf ihrem Instrument ein Solo hinlegen, fangen sie scheinbar zögerlich an, als erkundeten sie erst diesen Möglichkeitsraum. Sie tasten sich vor, wiederum nur vermeintlich, da sie die Abläufe zigfach geprobt haben. Oder sie überlassen alles bewusst dem Zufall. Dann wird die gesamte Palette an Figuren durchgespielt. Miles Davis soll John Coltrane einmal gefragt haben, ob er mit seinem Solo endlich fertig sei. Dieser antwortete, er habe noch nicht alles gesagt.

Alles und darüber hinaus.

Variationen folgen einander, bis der Moment kommt, wo klar wird, dass dieser Möglichkeitsraum ausgereizt ist. Nun erfolgt die Transzendenz. Und das führt nicht selten zu purem Chaos. Jimi Hendrix zeigt diese Transzendenz geradezu idealtypisch, indem er beim Solo einen wirklichen Sphärenwechsel vollzieht. Die Musik setzt völlig aus, sie gerät unverhofft zur reinen Performance: Die Gitarre zersplittert auf der Bühne oder sie geht in Flammen auf. Am besten hätte Hendrix sein Instrument aufgefressen. Derlei Versuche gab es ja auch, mit Zähnen und Zunge.

Bei Bach verhält es sich genau genommen nicht anders, auch wenn seine Musikinstrumente heil geblieben sind. Im ersten Satz des 5ten Brandenburgischen Konzerts tröpfelt das Orchester zur Verblüffung der damaligen Zuhörer allmählich aus und überlässt dem Cembalo die Bühne für ein Solo, das dieses Stück zum Urklavierkonzert schlechthin macht. Auch hier geschieht dieser Moment der Transzendenz, sobald die Themen ordentlich durchvariiert sind, indem die Musik in wilde, chromatische Tonfolgen ausufert. Im As-Dur-Präludium des 2ten Wohltemperierten Klaviers führt Bach die Girlande seines Themas durch verschiedene tonale Färbungen. Die Musik durchläuft ein dauerndes Gewoge, bis sie im 74sten Takt, also kurz vor Schluss, melodisch völlig ausschert.

Beethovens Spätwerk bedeutet Transzendenz schlechthin, auch hier ohne Rückkehr. Laut Wissenschaft zeigt sie sich in der Auflösung eines Spiels von Gegensätzen, das Beethoven bei seinen bisherigen Kompositionen streng durchgehalten hat. Diese Ordnung erklärt sich letztlich als Sonatensatzform, die auf Haydn zurückgeht. In der Sonate für das Hammerklavier bringt Beethoven Tonfiguren, die im Vergleich zum Bisherigen eigenartige Wege gehen. Es fühlt sich auch anders beim Spielen an.

Die moderne Kunst des 20. Jahrhunderts, bei der noch heute manche den Kopf schütteln, erklärt sich handlich als Transzendenz ohne Rückkehr. Nur so wird ihre scheinbare Abartigkeit verständlich: Das Desaster des Ersten Weltkriegs hat die Bereitschaft verstärkt, ja als geboten herausgestellt, dass man traditionelle Kunstformen strikt ablehnt. Das liegt daran, dass die Kriegstreiber neobarock gewandete Herrschaften waren, die klassische Bildung auch zur moralischen Überlegenheit erklärten. Nun erwiesen sie sich als Schwerstverbrecher. Das traditionelle Gut wurde mit ihnen gespült. Die Transzendenz ohne Wiederkehr bedingt neue Möglichkeiten um jeden Preis: Ein spätromantisches Gedicht verkehrt sich zu dadaistischem Gebrabbel, der üppig ausgeschmückte Neobarock zu nüchternem Bauhaus, Tonalität kippt in Atonalität, die Alltagslogik löst sich in surreale Eskapaden auf.

Ernster wird die Sache, wenn wir die Bedeutung von Kultur auf das menschliche Verhalten überhaupt ausdehnen, abzüglich natürlicher Regungen wie Atmen, Schlucken und so fort. Wie in der Natur bezeichnet dann Transzendenz ein Fluchtverhalten, das unter Menschen allerdings sozial problematisch ist. Mein Onkel nutzte in jungen Jahren eine Reise mit Rucksack per Autostopp nach Rotterdam, um sich dort als Kohlenschaufler anzuheuern und nach Amerika einzuschiffen. Ohne Rückkehr. Er war die familiären Zwiste leid, die täglich um Geldmangel entbrannten. Es gibt Menschen, die sich wie die Krake auf der Flucht vor dem Hai verhalten. Sie setzt alle Tricks ein, um zu überleben. Nützen die nichts, verlässt sie das Wasser.

In dieser Art, meine ich, sollte man Menschen verstehen, die sich das Leben nehmen.

Die Transzendenz in der Kultur führt ins Nichts. Ins Leere. Das Bekannte, Vertraute ist ausgereizt, ausgezehrt. Selbstmord wäre so gesehen als natürliche Todesart anzuerkennen.