Eine Medaille hat zwei Seiten. Eine blank polierte und eine Kehrseite eben. Das hat sich als Sprichwort und Gemeinplatz durchgesetzt. Zur ganzen Wahrheit zählt auch, was verdrängt wird. Damit hat man sich zwar abgefunden. Selbstverständlich ist es aber heute noch nicht, dass scheinbare Wahrheiten Kehrseiten aufweisen, die ihren Glanz eintrüben.
Es gibt Beispiele, die betroffen machen, wie sehr die Kehrseite vom Glanz der Vorderseite abweicht: Kolumbien vermeldete vor Jahren Piraterie auf seine Ölpipelines. Die Farc wurde verdächtigt. Sie schlugen Lecks und stahlen Treibstoff. Irgendwann geschah beim Anschlag ein tödlicher Unfall. Damit sei dem Terrorismus eine wohlverdiente Lektion verpasst worden, hiess es. Reporter als ungeliebte Anwälte von Kehrseiten öffentlicher Politik befragten auch hier Betroffene vor Ort. Eine Frau hatte ihren Mann bei diesem Unglück verloren. Benommen blickte sie in die Flammenhölle.
«Er war auf der Suche nach Benzin», soll sie gesagt haben.
Wie anders sich das anhört! Im Vertrauen auf die Übersetzung, versteht sich. Wo wäre hier Wahrheit zu finden? Hinter dem, was man uns als Gesicht des Bösen anpreist, steckt zumeist bitterste Not, die dazu nötigt, dass man nicht nur Regeln bricht, sondern sich dazu berechtigt, ja sogar verpflichtet sieht. Syrien, Weissrussland, Russland, die Farc in Kolumbien, Muslime in Burma, Fischer-Piraten vor Somalia: Überall sind Kehrseiten anzunehmen, von denen wir keine Ahnung haben. Welche Seite soll wahr sein? Inmitten von Corona macht die Forderung nach Wahrheit die Runde. Wie soll das gehen? Jemand meinte von sich, er sei der Wahrhaftigkeit verpflichtet. Meint er damit den Glanz der Dinge oder die dunkle Kehrseite davon? Das kommt mir zunehmend naiv vor. Keine Ahnung, wie er das in globalen Verhältnissen einlösen will. Die eine Wahrheit, die ich wahrhaftig vertrete, was soll das sein? Wer sich jedenfalls auf Kehrseiten einschiesst wie ich, erliegt gerne einer Verlockung, die doch mehr Verstand erfordert, sie zu fassen, als unsere alltägliche Betroffenheit zulässt.
Denn die Tatsache, dass eine schwierige Wahrheit öffentlich verdrängt wird, verlockt zu der Annahme, sie sei damit bewiesen.
Es könnte aber sein, dass eine Notlage überzeichnet wird, auch wenn das auf die Frau im Beispiel kaum zutrifft, die ihren Mann verlor. Die natürliche Schlichtheit ihrer Aussage ist ergreifend genug, sie bedarf keiner Überzeichnung. Aber es gibt andere Beispiele. Wo immer Minderheiten zurückgebunden werden, kann es vorkommen, dass sie ihre Not hochspielen. Das wäre dann Betrug. Wer aber diese Überzeichnung so aburteilt, sollte daran festhalten, dass eine Notlage gleichwohl besteht. Auch hier bekommen wir es mit einer Medaille und ihrer Kehrseite zu tun. Denn warum überzeichnen diese Leute ihre Not? Die Antwort gibt die Kehrseite zum öffentlichen Vorwurf, es sei Betrug:
Diese Leute tun das, weil sie keine Hoffnung mehr haben.
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