Alles Natürliche ist gut, das Menschliche schlecht. Meistens zumindest. Diese Auffassung gilt vielen selbstverständlich. Dabei erzählt sie nur die halbe Wahrheit. Und das macht sie zum Kitsch.

Ein Schimpanse, ein Alphatier nimmt sich einem männlichen Waisenkind seiner Gruppe an, das Abstand hält, mit der Nahrungsbeschaffung jedoch überfordert ist, nachdem seine kleinen Vorräte aufgebraucht sind. Der Moment rührt ans Herz, da der Junge nach komplizierter Annäherung zum ersten Mal auf den Silberrücken steigen darf. Wir sehen darin einen Beleg für Empathie und Uneigennützigkeit in wilder Natur. Diese Überzeugung ist verständlich, aber beschränkt. Ihr Kitsch rührt daher, dass die Zusammenhänge ausser Sicht bleiben, in denen diese besondere Brutpflege Sinn bekommt. Vor allem zeigt sie sich in einem natürlichen Eigennutz, den wir gerne wegdenken.

Denn als Alphatier ist das Männchen sozusagen verpflichtet, für die Sicherheit der Gruppe zu sorgen. Schimpansen bewegen sich wie viele andere Tierarten in einem bestimmten Revier, das sichere Nahrungsgründe umfasst. Dieses Gebiet wird andauernd von anderen Gruppen oder von einzelnen Tieren durchkämmt und so in Frage gestellt. Erst naschen sie an den Rändern, früher oder später stossen sie vor. Die Gruppe wird dieses Gebiet nur dann behalten, wenn ausreichend Männchen zugegen sind, die im Kampf gegen Eindringliche bestehen.

Das Alphamännchen lässt den Jungen gewähren, es macht kaum Druck. Es herrschen ideale Umstände, von denen die Gruppe täglich Nutzen zieht. Diese Entspanntheit macht die tierische Zuwendung erst möglich, die uns so rührselig stimmt. Wären die Nahrungsgründe knapp bemessen und daher Angriffen ausgesetzt, die infolge Mangel rascher und heftiger ausfallen, würde sich das Leittier kaum so zärtlich um den Kleinen kümmern. In Umständen von Mangel und hart geführtem Wettbewerb bilden sich die Hierarchien deutlicher aus. Die Ordnung in der Gruppe wird umso härter gewährleistet. Ein untergeordnetes Tier, das sich entfernt oder sonst wie Fehler begeht, wird an seinen Platz zurückgebissen. Die Gruppe muss zahlenmässig intakt bleiben, sonst wird sie ihre Nahrungsgründe an andere verlieren. Die rüde Behandlung grenzt an Vergewaltigung. Zumindest nach unserem empfindlichen Geschmack.

Brutale Hierarchien verweisen auf eine hohe Drucksituation. Vielleicht lässt sich an dieser Einsicht auch etwas für uns Menschen abgewinnen.

Zum Beispiel dass auch harte Diktatur in Todesangst ihre Wurzeln hat.

Rosapelikane füttern ihre Küken. Erneut sind wir voll der Rührung. Dabei vergessen wir zu fragen, was genau sie ihren Kleinen verabreichen. Die Tiere leiden insgesamt an Nahrungsmangel, wie der Erzähler Attenborough klarmacht. Also haben die Pelikane gelernt, zu Nestern der Tölpel zu fliegen, wo es Küken gibt, die unbewacht sind, da beide Eltern Nahrung beschaffen. Diese Küken schaufeln sie in ihren Kehlsack und verfüttern sie halbverdaut an ihre eigenen Jungen. Bei diesem Beispiel unterschlage ich, dass die Not von menschlicher Überfischung herrührt. Das mag Sentimentalen als Einwand gelten. Die Tiere könnten nicht anders, rufen sie, als fremde Küken zu stehlen und an die eigene Brut zu verfüttern. Wie so oft würde ihnen vom Menschen ein naturwidriges Verhalten aufgezwungen. Das mag zutreffen. Aber die Tiere verhielten sich genau so räuberisch in Notlagen, die natürlicherweise verursacht wären. Die Ursache zur Not spielt keine Rolle. Jedenfalls sehe ich keine innerhalb der Argumentation.

Soviel also zur uneigennützigen Empathie im Tierreich. Kitsch bedeutet das dümmlich Tröstende nach Adorno. Dazu wird die Situation derart vereinfacht, dass sie viel mit Gefühl, wenig aber mit Wissen und Erkenntnis zu tun hat. Der Moment wird seinen Sinnzusammenhängen enthoben zur Kenntnis genommen. Nur so gelangen wir zur falschen Annahme, es käme in der Natur selbstlose Empathie vor.

Eine Art Fundamentalismus zur Psychohygiene.

Wir sollten uns klarmachen, dass auch unser rührseliger Brutpflegetrieb, der zum Kitsch neigt, genauso eine Aufgabe im Ganzen inne hat. Seine Klebrigkeit, seine Süsse wirkt bindend. Vorbehaltlose Zuneigung zu Schwächeren der Gruppe stärkt längerfristig die Gruppe selbst.

Wüstenvölker wissen Zucker anders zu schätzen als wir. Vereinfacht und konzentriert wie der Kitsch bindet dieser Klebstoff die Herzen aneinander.

Und von der Gruppe nutzniessen alle Beteiligten. So betrachtet ist auch unser Brutpflegetrieb alles andere als nur selbstlos.