Bei Transzendenz geht es für uns zumeist um Tod und Jenseits. Allgemein wird eine Grenze überschritten. Mit oder ohne Wiederkehr. Der angestammte Bereich, in dem man eingenistet lebt, wird jedenfalls dramatisch entgrenzt. Die Natur ist voller solcher Vorgänge.
Eine Krake wird von einem Pyjamahai durch Kelpwälder verfolgt. Ihre Tricks bleiben ohne Erfolg, der Jäger greift aus Hunger unerbittlich an. Nun verlässt die Krake das Wasser. Sie kriecht an Land, freilich nur für kurze Zeit. Dabei wird deutlich, wie schlecht sie diesem Umfeld angepasst ist: Ihr sackartiger Mantel schwabbelt schwer auf den Saugarmen hin und her, während sie vorwärtskriecht. Meeresschildkröten begeben sich an Land, um ihre Eier abzulegen. Unförmig und tollpatschig zappeln sie ihre Spuren durch den Sand. Danach kehren sie sofort ins Wasser zurück. Auch die Nachkommen werden unvermittelt das Wasser aufsuchen. Kehlstreifpinguine brüten auf einer Vulkaninsel, wo es sonst keine Tiere, also auch keine Fressfeinde gibt. Für diesen Vorteil nehmen sie die tödliche Brandung am Lavafelsen in Kauf. Die Dringlichkeit, für Nachkommen zu sorgen, überwiegt den Selbsterhalt des einzelnen Phänotyps. Eine bestimmte Pavianart steigt in felsige Höhen, um dort zu schlafen. Das Gleiche tun mittlerweile Walrosse, da die Klimaerwärmung sie an Land zwingt, wo es kaum Platz gibt, sodass sie dicht gedrängt und konfliktreich kaum Ruhe finden. Beachtlich, in welche Höhe die Kolosse sich hochschieben. Der Hunger treibt sie hinunter zu den Gefährten am Ufer. So stürzen sie in den Tod, denn ihnen fehlt ein Begriff davon, was es bedeutet zu fallen, wie es in der Dokumentation (Attenborough) heisst. Delphine zwingen Makrelen zu einem Sphärenwechsel, also zur Transzendenz, indem sie sie an die Wasseroberfläche drängen, bis sie zu springen anfangen, und zwar direkt in ihre Mäuler. Auch Haie wagen beinahe einen Sphärenwechsel, wenn sie Fische jagen, die in Flachwasserwellen am Ufer Schutz suchen. Das Risiko zu stranden gehen die Jäger ein. Genau dies nutzen Seelöwen, indem sie Thunfische in Buchten mit seichtem Wasser treiben, wo sie stranden und sterben.
Transzendenz geschieht immer dort, wo es eng wird. Wenn also Angelegenheiten des Lebens von höchster Wichtigkeit tödlicher Gefahr ausgesetzt sind. Angenommen, ich müsste eine Definition anstrengen, was genau Transzendenz in der Natur bedeutet. Das wäre zwar ein unsinniges Unterfangen, da man heute unmöglich im Alleingang Definitionen solcher Tragweite bewältigt. Bei heutigen Ansprüchen, die an die Wissenschaft gestellt sind, gelingt das nur in Zusammenarbeit verschiedener Fachbereiche. Mein bescheidener Vorschlag als Beitrag zu einer Definition wäre der, dass nur dann von Transzendenz die Rede sein kann, wenn die Lebensformen in eine planetarische Sphäre wechseln, in der sie schlecht bis gar nicht angepasst sind.
Primaten sind über die Erde verteilt. Die Transzendenz, in vielen planetarischen Sphären heimisch zu sein, haben sie vollzogen, ohne dass sie sich erst über eine immense Abfolge von Generationen genetisch anpassen müssten. Bei Menschen spielen technische Hilfen dabei eine wesentliche Rolle: Tauchgerät, Thermosflasche, Sonnenschutz. Viele nehmen das als Beleg dafür, dass wir aus der Natur gefallen sind. Mit welchem Grund eigentlich?
Auch Mensch und Technik sind auf diesem Planeten einfach so entstanden wie jede natürliche Art selbst.
Nebst der Ausbreitung in verschiedene planetarischen Sphären könnte man auch bestimmte Verhaltensweisen als transzendent bezeichnen, obwohl der Phänotyp, der sie an den Tag legt, an Ort bleibt: Eine Krötenechse, auf die es eine Schlange abgesehen hat, bäumt sich in die Höhe, als erlitte sie einen Schlaganfall, lässt sich rücklings zu Boden fallen und streckt starr alle Viere von sich, sodass die Schlange ihr Interesse verliert. Dieses Benehmen ist für die Krötenechse eigentlich naturwidrig, insofern also transzendent, wenn man es mit ihrem gewöhnlichen Betragen vergleicht, das sie an den Tag legt, wenn sie ruht, umherschweift oder Nahrung aufnimmt.
Transzendentes Verhalten übersteigt das übliche Benehmen mitunter in grotesker Weise. Das zeigt sich beispielhaft am Balzgehabe. Gesundheit, Stärke und Raffinesse eines Phänotyps sollen sich vererben. Bestimmte Vögel oder auch Fische bewegen sich im Gleichtakt, bevor sie sich paaren. Paradiesvögel veranstalten auf frei geräumter Bühne eine regelrechte Balznummer mit Verhaltensweisen, die sonst nirgends sichtbar sind. Unter anderem lassen sie Farbflecken ihres Gefieders in akkurater Choreografie aufblitzen. So gesehen kann man auch bei Pflanzen die Ausbildung prächtigster Blüten als transzendent bezeichnen. Die Blätter bilden sich auf einmal in Formen aus, die im Vergleich zu ihrem üblichen Wachstum völlig absonderlich wirken.
Die Lebensform scheint sich über ihre Möglichkeiten hinaus zu bemühen.
Also verhält sie sich transzendent.
Als stülpte sie sich über sich selbst hinaus.
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