Die Klage darüber, dass unsere Gesellschaft Vieles vergessen hat, ist oft zu hören. Naturnahe Heilmethoden sind ein gängiges Beispiel dafür. Eine profitorientierte Arzneiindustrie liess das Wissen darum verkümmern. Diese Klage kommt mir doch etwas naiv vor.
Heidegger beklagte die allgemeine Seinsvergessenheit seiner Zeit, was immer das bedeuten mag. Rousseau soll über der Einsicht unseres Naturverlustes in Tränen ausgebrochen sein. Und Cicero maulte seinerzeit über den Verfall republikanischer Werte. Für diese Klagen gibt es gewichtige Gründe. Dabei wird jedoch unterstellt, dass dieses wertvolle Gut aus Nachlässigkeit, aus Überheblichkeit oder aus bösartigem Vorsatz verloren ging.
Wer diesen Verlust so beanstandet, übersieht, dass es keine Gesellschaft je gab, die für eine bestimmte Angelegenheit alle erdenklichen Möglichkeiten zugleich verwirklicht hätte. Stattdessen setzt jede ihre Schwerpunkte.
Und darin ist sie gar nicht so frei, wie es scheint.
Eine Gesellschaft, vielleicht eine Kultur, eine Zivilisation, allgemein ein Gemeinweisen von Menschen ist also ausserstande, für die gleiche Angelegenheit sämtliche Möglichkeiten zu verwirklichen, die sich uns allen zugleich bieten. Darin ist keine Bosheit zu sehen, sondern schlicht eine natürliche Ökonomie. Ein Beispiel: Mag sein, dass es früher Schwindsüchtige gab, die dank einer Räucherung geheilt wurden, wie sie seit je überliefert war. Andere siechten trotzdem jämmerlich dahin. Wer solche Höllen durchsteht, begrüsst notwendig die Impfung als besseres Mittel.
Und es kann für diese Duldner einfach nicht vorrangig sein, dass man sich bitte schön auch an die Räucherung erinnern möge.
Goethe hätte ein künstliches Schmerzmittel auch gegen seine Überzeugung sofort befürwortet, als seine Christiane während Tagen ihrem Tod entgegenschrie. Schulmedizinische und alternative Heilmethoden schliessen sich teilweise aus. Mein Hausarzt wäre auch in Chinesischer Medizin geschult, aber er käme hinter Gitter, würde er meine akute Blasenentzündung so behandeln. Ein anderes Beispiel: Jede Gesellschaft lebt nach bestimmten Regeln zusammen. Dieses Regelwerk nennt sich Politik. Es kann religiös gestrickt sein, wie früher üblich, oder aber weltlich, sprich säkular. Aber:
Es kann nicht beides zugleich sein.
Natürlich beklagen wir die Fleischindustrie und die Ausbeutung an Leben, die damit einhergeht. Aber wir mussten uns auch nie an Hungerkrawallen behaupten, wie in Europa 1848 nach der Kartoffelfäule, als sie sich zu Tode schlugen, um an Essen zu gelangen. Viele Gesichtspunkte stellen die heutige Hochleistungsversorgungsgesellschaft in Frage, aber ich sehe im Rückblick auf ihre Entstehung keine Alternative. Wer könnte denn einem Goethe nahelegen, von hochwirksamen Schmerzmitteln abzusehen, auch wenn seine Frau am Verrecken ist, nur weil seine Nachfrage eine Industrie fördern würde, die schlecht für die Zukunft aller wäre?
Wieder ein Beispiel: Es liegt auf der Hand, dass ein romantischer Künstler an pythagoreischen Zahlenspielen keine Freude hat. Er ist ja angetreten, um die Vernunfttabellen der Aufklärung auszugleichen, die ihm sozusagen vorausgehen. Das ist sein Schwerpunkt. Immerhin muss er sich sagen lassen, dass sein Gründeln in dunklen Tiefen die Mittagshelle eines künstlerischen Naturalismus geradezu anreizen wird. Kunst kann nicht romantisch und analytisch zugleich sein. Jedenfalls ist mir kein Beispiel bekannt. Ein Pointilist vermeidet klarerweise die warme Unschärfe einer Pinselführung, wie sie Delacroix oder William Turner ausübten. Die Debatte darüber, welche Kunst besser sei, erweist sich als unsinnig. Aber sie erhitzt allerorten die Gemüter.
Die Wahl zwischen Möglichkeiten, die sich ausschliessen, sollte man als Luxus erachten. Die Nachkriegszeit hat solche Wahlmöglichkeiten gewährleistet. Ein Zeitfenster genannt Postmoderne, bei dem sich herausgestellt hat, dass es eher eine Ausnahme darstellt. Statt zu beklagen, es würden falsche Schwerpunkte gesetzt, sollte man Acht darauf geben, wie viele Probleme bisher gelöst worden sind. Das ist in jedem Fall beachtenswert. Der Schwerpunkt lautete bisher: Versorgung statt spirituellem Feinsinn oder ähnlich. Auch Versorgung durch Umverteilung, denn das führt zu Selbständigkeit. Ein Schwerpunkt, der die leidvolle Abhängigkeit unter Menschen ablöst.
Daher verkümmern Traditionen. Eine Folge, die ebenfalls einem bösartigen Vergessen angelastet wird.
Ein kultureller Schwerpunkt versteht sich in der Tat auch als besondere Problemlösung. Wie eben Versorgung oder etwa Orientierung, wenn es um Religionen oder Ideologien geht. Dabei ist zu beachten:
Eine Problemlösung schafft neue Probleme.
Eine Art Naturgesetz, die in jeder kulturellen Entwicklung wirksam ist. Davon ist niemand ausgenommen, der antritt, die Welt zu verbessern. Wem eine Problemlösung gelingt, der wird andere darauf verpflichten. Auch jene, die bereits die Folgeprobleme erleiden. Deshalb verschieben die Kulturen ihren Schwerpunkt, wie Jacob Burckardt betont. In Politik, Kunst und Moral.
Dafür gibt es keine Pläne. Das geschieht.
Und dort, wo der Wechsel deutlich wird, ereignet sich viel Leid. Zwischen Generationen, zwischen Geschlechtern, zwischen Gesellschaftsschichten. Dieses Leid rührt auch von daher, dass wir in die Sache verstrickt sind. So taubblind wie in einen Kokon. Mit etwas Abstand würde sich diese bösartige Vergesslichkeit in ihren Zusammenhängen zeigen.
Und so verständlich werden.
Daher fasziniert mich kein einzelner Schwerpunkt für sich genommen, sondern die Abfolge von Schwerpunkten.
Und wie sie sich zu einer wechselhaften Kulturgeschichte aufreiht.
Eigentlich ein grandioses Buffet.
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