Ich bin Nahrung. Ich bin Nahrungesser.
Upanishad (400 v.)
Das Problem des Bösen soll die grundlegende Frage des Geistesleben bleiben, so Tony Judt. Für die meisten steht fest: Das Böse tritt mit dem Menschen in die Welt. Ein weitschweifender Blick auf die übrige Natur, wie ihn neuste Dokumentationen vermitteln, lässt auch andere Vermutungen zu.
Wer es genau nimmt mit dem Unterschied zwischen Mensch und Natur, die tun sich schwer damit, den Moment aufzuzeigen, wo genau das unschuldig Natürliche beim Menschen ins Böse umschlägt. Entweder sind wir Menschen eine Lebensform, die mit ihren besonderen Eigenschaften aus der gesamten Naturentwicklung fällt, oder diese neuen Eigenschaften unterscheiden uns von der übrigen Natur nur nach Graden. Ich persönliche befürworte letztere Sichtweise. Dafür gibt es viele Gründe sowie auch für die gegenteilige Annahme.
Das Böse, das mit uns zur Welt kommt, lässt sich leicht benennen: Gier, Egoismus, Rücksichtslosigkeit, ingesamt die restlose Vernichtung des Anderen. Als Gradualist sehe ich mich genötigt, dass ich nach den Vorläufern dieser problematischen Eigenarten in der Natur suche. Wenn ich diese Naturdokumentationen zu Rate ziehe und zum Beispiel einem David Attenborough genau zuhöre, als lernte ich die Natur erst kennen, dann sehe ich diese Eigenarten überall am Werk. Zweifellos weiss man das, aber was fange ich mit diesem Wissen an? Es gilt derart selbstverständlich, dass man es schon als Voreingenommenheit bewerten muss. Wissen bedeutet nicht blosse Kenntnisnahme. Vielmehr soll es zu einer Haltung führen. So jedenfalls wäre es in der Moderne vorgesehen.
Eine aufgeklärte Haltung gegenüber der Umwelt, aber auch gegenüber uns selbst.
In allen Biosphären der Erde herrscht also dieses Böse. Unter Kleinstgevieche genauso wie unter Grosswild. In Wäldern, zur See, unter dem Eis, im Wüstensand und in der Luft. Keine Gnade überall, wenn die Jäger vor Hunger auszehrt sind. Auch in Sachen Nachwuchs gibt es keine Rücksicht: Eine Walrossmutter verjagt eine andere mit ihrem Kind von der Eisscholle, da ihr eigenes vor Erschöpfung am Ertrinken ist. Dazu schlägt sie ihre Hauer in die Schwarte der Gegnerin. Wo Schneegänse brüten, kriechen Polarfüchse mit ihren Jungen entkräftet aus dem Winterlager hervor. Die Gänse fechten aus, welche Vögel am Rand der Kolonie ihr Nest anlegen. Dort werden sie ihre Eier an die Füchse verlieren.
Die problematischen Eigenschaften sind also Naturgesetze. Auch das wäre nichts Neues. Wenn man in Wissensgründen, die für uns mittlerweile selbsterklärend geworden sind, neue Einsichten angeln möchte, braucht es eine gehörige Portion bewusster Arglosigkeit. So werde ich vor dem Bildschirm zum Kind, indem ich erstaunt feststelle, dass Bösartigkeiten der genannten Art in der Natur bei Opfern keine Verhaltensweisen auslösen, die uns an Hass erinnerten, an Rache oder sonstige Ressentiments. Auch Ängste sind kaum feststellbar, genauso wie triumphierendes Getue. Das liegt auch daran, dass kein Tier zu einer vergleichbaren Mimik wie Menschen fähig wäre. Alle Tiere haben den gleichen Blick, wie ich immer wieder vergnügt feststelle. Eine ungenaue, da gefühlsbetonte Aussage. Der natürliche Gleichmut, der allen Arten innewohnt, wäre auch für uns beispielhaft: Eine Gruppe Leoparden wird beim Anpirschen an Gnus von einem nervösen Geflügel verraten, das sich an ihre Fersen heftet. Die Jäger bleiben gelassen, übersehen die schnepfigen Vögel, statt sie erbost zur Strecke zu bringen, blicken sich nicht einmal nach ihnen um. Sie lockern einfach ihre Anspannung und halten nach nächsten Möglichkeiten Ausschau.
Jede Art unternimmt das ihr Mögliche bis zum letzten Moment. Sonst überwiegt bei Täter wie Opfer eine wunderbare Ergebenheit in die Geschehnisse, wie sie kommen und gehen.
Fressen bedeutet brutale Vernichtung. Das hat seine Richtigkeit, schliesslich muss das zähe Stück Leben in seine kleinsten Bestandteile zerlegt werden, damit es als Nahrung dient. Reissen, beissen, kauen, verdauen. Jede Ernährung verläuft mit Gewalt. Sollte darin das Böse zu finden sein, gilt die Frage, warum das Leben nebst den Organismen nicht separat auch Nahrung hervorgebracht hat, die vorhanden wäre wie etwa Wasser zum Durst löschen, ohne selbst eine Lebensform zu verkörpern, die sich ihrerseits ernährt und an Fortpflanzung interessiert wäre. Dazu ist das Leben offensichtlich nicht in der Lage.
Es kommt mir vor, als erwischte das Leben zwei Fliegen mit einer Klatsche, indem es die Lebensformen sich gegenseitig verspeisen lässt, statt mit viel Aufwand Organismen und Nahrung getrennt voneinander hervorzubringen. Darin liegt eine bestmögliche Ökonomie, die wir mühelos verstehen.
Wenn ich sehe, wie ein Schwarm Makrelen wie ein Schaum von Nahrung zwischen Delphinen, Tölpeln und Seelöwen, die ihn vertilgen, immer kleiner wird, kommt mir die Einsicht, dass hier Nahrung, sprich Energie zum Leben nicht etwa verbraucht und vernichtet wird. Sondern:
Diese nahrhafte Energie wird bloss umverteilt.
Und zwar immer innerhalb des Lebens selbst. Nichts geht somit verloren. Die Wurzel des Bösen wäre demnach in dieser Ökonomie zu finden, sprich in diesem Optimum, zu dem das Leben in planetarischen Verhältnissen offenkundig in der Lage ist.
Ob das auch für uns Menschen gilt, ist zunächst zweifelhaft. Man weiss von der Schwierigkeit, die sich ergibt, wenn wir menschliche Kulturen wie natürliche Arten behandeln. Für mich jedenfalls wäre es erfreulich, wenn diese natürliche Ökonomie auch in Verhältnissen kultureller Evolution wirksam wäre, damit das angeblich Böse ein sachliches Gesicht bekäme.
In welcher Form jedoch, bleibt mir unklar.
Vorderhand.
Kommentar verfassen