Leben verzehrt Leben. Genauer: Intelligentes Leben verzehrt intelligentes Leben. Das betrifft Fleischesser genauso, wie Vegetarier und Veganer. Wer Mühe damit hat, soll mit Anstand verhungern. Oder man wird Frutarier. Oder man lässt sich darüber belehren, dass das grosse Fressen in der Natur noch einen anderen Zweck als den der Ernährung erfüllt.
Eine Meeresschildkröte grast vor sich hin. Unter Wasser stehen ihr ganze Felder zur Verfügung. Gäbe es eine bestimmte Sorte Hai nicht, die über besondere Fresswerkzeuge verfügt, mit denen sie ihren Panzer knackt, bliebe sie an Ort und frässe den Bereich ratzekahl. So aber wechselt sie immer wieder ihren Fressplatz. Sicherheitshalber, auch wenn kein Hai in der Nähe ist. So bleibt der Bestand an Seegras gesichert.
Korallen würden mit Tang überwuchert, gäbe es nicht kleinere Fische im Riff, die sie abweiden. Hätten diese freie Bahn, würden sie letztlich auch die Algen abfressen, die in die Haut der Koralle eingelagert sind und sie mit Zucker ernähren. Grössere Fische sorgen vor, indem sie die kleineren jagen. Würden sie sie ganz vertilgen, fehlten die kleinen Gärtner und die Koralle erstickte unter dem wuchernden Tang. Deshalb durchkämmen Haie das Riff nach den grösseren Fischen, allerdings nur nachts, sodass diese tagsüber genügend Zeit finden, ihre Aufgabe zu erfüllen.
Dank dieses grossen Fressens bleibt die Artenvielfalt erhalten.
Somit gilt die scheinbar widersprüchliche Schlussfolgerung, dass das Fressen der Arterhaltung dient. Offensichtlich liegt der Natur viel an dieser Vielfalt. Und ebenso offensichtlich ist das Leben darauf angewiesen, da es sich ausbreitet und dabei unterschiedliche planetarische Sphären besetzt wie Tiefsee, Küste, Wüste, Regenwälder, Baumkronen, Eis, Erde sowie andere Lebewesen. Die eine Superart, die überall heimisch würde, ist unter diesen Bedingungen offensichtlich für das Leben unmöglich auszubilden.
Wie immer finden wir, das sei in der Natur wunderbar eingerichtet, doch wir Menschen störten dieses Gleichgewicht. Tatsächlich leiden Korallenriffe, wenn wir Haie aus blödsinniger Angst ausrotten, da wir zu oft dämliche Filme anschauen. Auch Buschbestände verkümmern, wenn wir Wölfe ausmerzen. Sie jagen das Wild, das ganz besonders auf Knospen aus ist. Unser technisches Ja zu einträglicher Wirtschaft wütet ohne Skrupel in der Natur. Wir halten das für Macht und Machtmissbrauch.
Dabei stecken darin, wie immer beim menschlichen Leben, Todesangst und Kalkül.
Im Übrigen aber steht dieser Macht das ökologische Nein gegenüber. Auch das gehört zur menschlichen Eigenart. Und somit ist es auch vom Leben hervorgebracht und gewollt. Vielleicht müssen wir uns damit abfinden, dass dieses Nein unser artgemässes Vorgehen bedeutet, wie wir für Erhalt der Artenvielfalt sorgen. Planmässig und besonnen.
Aber immer auch mit Sorge.
Anders geht nicht.
Das Fressgleichgewicht in der Natur dürfte ohne uns Menschen bestens aufgehen. Also stören wir nur. Dieses Lied ist schon beinahe ausgesungen: Wir Menschen als Katastrophe der Natur und so fort. Aus der Grundannahme, dass wir dem Fressgleichgewicht von Natur aus wundersam enthoben sind, liesse sich ebenso ableiten, uns sei folglich eine andere Aufgabe auferlegt. Mag sein, dass ich ein unverbesserlicher Schönfärber bin, was unser Verhältnis zur Natur angeht. Für Pessimismus fehlt mir die nötige Verwundung, wofür ich dankbar bin. Sarkasmus wiederum ist mir persönlich fremd, so appetitlich er auch sein mag.
In Sachen menschlicher Bemühung um Gleichgewicht in der Natur rufen sie weltweit, es sei fünf vor Zwölf. Diese Selbstsicherheit ist schon zu bewundern. Denn mit zwölf Uhr bezeichnen sie eine Grenze, die noch niemals überschritten wurde. Analytisch betrachtet können wir eine Grenze nur dann zuverlässig benennen, wenn uns beide ihre Seiten bekannt sind. Das geht nur mittels Überschreitung. Und das darf in Sachen Naturgleichgewicht niemals geschehen. Die Sicherheit, mit der man zwölf Uhr bestimmt, rührt keineswegs von daher, dass wir diese Grenzen ganz genau verorten könnten. Wir können es nicht.
Sie fusst im strikten Verbot dieser Überschreitung.
Daher ist es völlig zulässig, dass wir eine Auge darauf werfen, was wir zum Erhalt der Artenvielfalt tun. Das läuft eben nicht über unsere Fresswerkzeuge. Eine kleine Auswahl solcher Bemühung spricht für alle: Wir erlassen Schutzzonen, wir retten Meeresschildkröten, die wegen der Erwärmung zu hoch in den Norden gelangen und dort bei Wintereinbruch beinahe erfrieren. Wir päppeln verwaiste Tiere auf und pflanzen einen Gürtel mit dürreverträglichem Grünzeug, damit die Sahara in ihrer Ausbreitung nach Süden gebremst wird.
Dies alles ist weiter nichts als Erhalt der Artenvielfalt auf menschliche Art.
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