Ob Verschleierung bei uns zulässig sein soll oder nicht, bedeutet das Scharmützel eines Konflikts, der tiefer geht und seit Jahrzehnten andauert. Die Widersacher in diesem Konflikt lauten Moderne gegen Tradition. Und der Kampf verläuft wie folgt: Wo der Westen sich durchsetzt, macht er Traditionen überflüssig. Dagegen wehren sich noch viele unter uns.

Dieses Scharmützel interessiert mich weniger als der grosse Streit. Entweder ist Verschleierung als Zwang zu unterbinden oder als Religionsfreiheit anzuerkennen. Für beides lassen sich gewichtige Argumente aufbieten. Also lässt sich die Sache nur mittels Mehrheitsentscheid klären. Ob Zwang im Einzelfall vorliegt, darüber befindet einzig die Person, die es betrifft. Alles andere wäre Unterstellung. Etwa die Annahme, dass bei ihr eine Unterwürfigkeit vorliegen soll, die sich schützt, indem sie sogar Freiwilligkeit öffentlich vortäuscht. In Frankreich haben Frauen nach Inkrafttreten des Verbots sich zum Trotz verhüllt.

Wenn ich diesen grossen Konflikt in Rechnung stelle, bleibt mir nur die Wahl, Verschleierung als Grundrecht anzuerkennen, so sehr mir eine verhüllte Gestalt auch Missbehagen bereitet. Im Übrigen hat jede Kultur ihre Regulative, was Sexualität angeht. Die Mittel dazu sind verschieden und wohl zufällig. Wie man weiss, dreht sich die Sorge eigentlich um Rache und Eifersucht, was gerne mit Sexualität einhergeht und Gemeinwesen zersetzt, die für seine Mitglieder  überlebenswichtig sind.

Oder es waren.

Die Moderne hat diese Abhängigkeiten abgeschafft. Auch Frauen leben völlig selbstbestimmt, wenn sie das wollen. Das geht nicht ohne harte Wirtschaft, mit der entsprechenden Ausbeutung und Versorgungseffizienz, nicht ohne ausgeklügelte Umverteilung, wie das Steuerwesen oder Versicherungen aller Art, insbesondere die Altersvorsorge, die ins Stottern geraten ist. Wir hängen an diesen Systemen, aber nicht mehr an einem Familienklüngel mit seinen Marotten. Auch sind wir losgelöst aus Verwandtschaften, die lästigfallen. Nun können wir uns in Sachen Sexualität eine gewisse Lässigkeit erlauben. Das bringt einen wichtigen Zusammenhang auf den Punkt:

Was wir mit Tradition meinen, bedeutet Rücksicht und Würdigung natürlicher Abhängigkeiten unter Menschen.

Eben Familien, Verwandtschaften, Volksgruppen, Kulturen. Dabei spielt Religion eine gewichtige Rolle. Solange diese Abhängigkeiten bestehen, wie es noch in mancher Weltgegend der Fall ist, bedrohen jene, die sich von der Tradition abwenden, unmittelbar den Zusammenhalt ihres Gemeinwesens. Damit gefährden sie seinen Fortbestand. Von daher rührt der Zwang, den wir Moderne verabscheuen.

Und wie immer bei Menschen steckt auch hinter dem Zwang die Angst vor Untergang.

Noch immer haben wir kein Auge dafür. Wir sehen nur Macht und Machtmissbrauch, nicht die Angst, die sich dahinter aufbäumt. Bezeichnenderweise befürworten wir ein Verbot der Verschleierung aus dem gleichen Grund: Wir fühlen uns bedroht. Das ist schwer nachzuvollziehen, wenn man sich umblickt. Aber vielleicht ängstigt uns die Aussicht, die Umverteilungssysteme, die uns unabhängig machen, könnten erodieren. Diese Sorge scheint keineswegs abwegig. Kriege sind zwar keine in Sicht, dafür Finanzkrisen, Grossseuchen und eine ultraliberale Politik, die wenig von Umverteilung hält. Man braucht kein Sozialist zu sein, um dieses Ansinnen bedenkenswert zu finden.

In dieser Situation fühlen wir uns von einer verschleierten Person zusätzlich herausgefordert. Und im Nu erscheint sie uns übermächtig, während sie wohl eher mit der Sorge beschäftigt ist, dass der Westen auch ihre Kultur schlucken wird.

Der Widerstand gegen die Moderne hat sich unter uns verflüchtigt. Für mich sind ihre Werte selbstverständlich geworden. Das beruht auf keiner persönlichen Leistung. Ich war nie gezwungen, eine revolutionäre oder rebellische Energie aufzubringen. Mein Vater hatte sich bereits von der Kirche abgewandt. Aus purer Provokation spülte er jeden Karfreitag die Sickerleitungen im Garten durch. Familienfeste finden kaum mehr statt, zu Verwandten besteht keine Bindung mehr. Trachten lagern in Mottenkisten, Dorfvereine vergreisen. Heiligenkalender hängen nur noch in Ortsmuseen. Vom sonntäglichen Kirchenbesuch ist sozusagen nichts übriggeblieben. Eine Scheidung bedeutet keine Schmach mehr, sie lässt sich handlich abwickeln, sogar ohne Schuldspruch.

Die Kulturen, die vorerst noch in traditionellen Abhängigkeiten leben, beobachten diesen Prozess genau. In ihren Augen handelt es sich dabei um Verfall. Sie verweisen unter anderem auf Heerscharen von Scheidungskindern, deren Schmerz tiefer greift und prägender wirkt, als wir wohl für wahr haben wollen. Diese Kulturen wissen, dass der Moment, in dem ihre Religion zur Privatsache erklärt wird, ihr Sterben beginnt. Der Schah Persiens drückte in Sachen Modernisierung auf das Gas und wurde aus dem Land geworfen. Auf seine Anordnung hin wurden in Teheran Frauen gebüsst, die verschleiert unterwegs waren. Diese taten es aus Gewohnheit, nicht aus einer besonders bissigen Überzeugung heraus. Die Sauds hingegen verstanden, dass man die Menschen keineswegs überfordern darf. Jeden Schritt zu mehr Moderne verpacken sie in Tradition. Genauso, wie man bei uns die ersten Telefone und Bahnhöfe neugotisch einkleidete.

Zu einer modernen Einstellung zählt der Wert einer möglichst sachlichen Kenntnis von der Welt. Das heisst in diesem Fall die Rücksichtnahme darauf, dass es auf diesem Planeten nach wie vor Menschen gibt, die auf ihre Tradition angewiesen sind. Aus welchen Gründen auch immer. Das mag mich noch so sehr empören, es ist einfach der Fall.

Nötigen wir sie unter Verbote, werden sie um so eher an ihrer Tradition festhalten.