Wenn man im Netz Zen-Musik abruft, bekommt man den typischen gleichförmigen Sound geboten. Ein ozeanisches Gewoge, bei Räucherstäbchen und sanften Klangschalen. Schon nach wenigen Minuten komme ich mir vor wie ein Embryo. Das Ganze dient der Entspannung von Angehörigen einer Hochleistungsversorgungsgesellschaft. Die ursprünglichen Zen-Gesänge jedoch haben, so vermute ich, eine andere Aufgabe. Und diese geht wohl über blosse Entspannung hinaus.

Jedenfalls ist uns Hörern bei dieser alten Musik jede Chance auf Entspannung genommen. Die fernöstlichen Gesänge befremden ohnehin als solche das abendländische Ohr. Das zeigt, dass die handelsüblichen Beispiele für Zen-Musik europäisiert sind. Die Musik vermeidet zudem jede Gleichförmigkeit. Kein durchgehender Takt, der einen tragen könnte. Keine Melodien, bei denen Wendungen und Abschlüsse sich vorweg andeuten und so, wenn sie sich wiederholen, in uns ein Gefühl der Sicherheit mit der Welt erzeugen.

Sicherheit darf bei ursprünglichen Zen-Gesängen offensichtlich nicht sein. Nicht sofort jedenfalls. Ein ozeanischer oder embryonaler Zustand, der unter uns für spirituell gilt, warum auch immer, stellt sich vielleicht mit der Zeit ein. Und nur unter bestimmten Bedingungen. Was kommt, ist völlig unberechenbar. Die Takte wechseln abrupt, legen zu an Stärke und Tempo, bis sie sich auf einen Punkt hin verfeinern und in Stille auslaufen. Ein nasaler Gesang setzt ein, durchzogen von scheinbar zufälligen Schlägen auf Bambusrohre. Schliesslich trifft einen der Gong, wie immer gänzlich unvorbereitet. Ein monotoner Sprechgesang im Chor füllt den Kopf an, während der Gong immer wieder geschlagen wird, wiederum ohne Regelmässigkeit ausser besagter Monotonie. Ein einzelner Sprecher jammert auf, zieht Töne lang, entlässt groteske Laute aus den Höhlungen seines Körpers, ohne dass er Rücksicht auf abendländische Hörempfindlichkeiten nähme. Das Ganze erinnert an eine lautmalerische Reinigung des Körpers. Grollen, brüllen, ausrufen, kurzzeitig in Geschrei ausbrechen.

Offensichtlich sollen wir daran erinnert bleiben, dass wir in einer Welt leben, aus der Dinge hervorbrechen können. Der Rückzug in einen embryonalen, ozeanartigen Zustand wäre die falsche Anpassung. Sie ist dem städtischen Europäer angemessen, nicht aber dem Bauern in Fernost.

Das Spirituelle dieser ungemütlichen Klangwelt ist schwer zu finden. Da gilt es ohnehin erst zu klären, was spirituell bedeuten soll. Offensichtlich nicht das, was wir so ansprechen. Also keine Abkehr vom lärmigen Alltag, wo man wohlgebettet in Schutzzonen eingestülpt lebt. Wie könnte es für spirituell gelten, wenn man die Welt anerkennt, wie sie ist, erst nachdem ihre Kanten und Ecken geschliffen sind? Im Geschepper und Gekrächze ursprünglicher Zen-Gesänge dürfte genau das Gegenteil davon spirituell sein:

Nämlich dass ich die Störung sofort und umfassend in mein Leben einbeziehe.

Das wird so geübt. So meditiere ich oft zwei, drei Minuten, bevor die Schulglocke schrillt. Ein bissiges Überbleibsel, das mehr über die Geschichte der Schule erzählt, als wir zu lesen verstehen. In nervigen Augenblicken meint man, sie bohre sich in den Kopf. Sobald die Glocke lärmt, ohne jede Ankündigung und sofort auf volle Lautstärke gedreht wie bei den Gesängen, dann…

… atme ich sie ein.

Das Schrillen wird dann kurzfristig wie zu einem Teil meiner selbst. Ein embryonaler Zustand kann sich so nicht sofort einstellen. Für Inder wäre das der Weg schlechthin: Dass du dein schwieriges Eigenselbst mit dem schwierigen Umweltselbst in Einklang bringst, denn sie bilden seit je eine Einheit.

Ob wir das wollen oder nicht.