Ein Schulfreund führte mich hin und wieder in die Werkstatt seiner erwachsenen Brüder. Dort offenbarte er mir ihre Geheimnisse.

Einmal zog er aus einer Schublade unter Schrauben und Muttern ein Pornoheft hervor und hielt es mir unter die Nase. Aufgeschlagen bei einer Szene, in der seitenfüllend eine Frau Fellatio ausübte. Als Zehnjähriger hätte ich wohl geschockt sein müssen. Dieser Vorfall würde heute, je nach dem, einige Abklärungen lostreten. Mit Emails hin und her. Mit Befragungen, womöglich sogar mit Verwarnung an die Brüder meines Schulfreundes. Alles würde mit Wohlwollen besprochen, doch nichts ginge vergessen.

Vielleicht hätte man mich als Opfer angesprochen. Ein Kind in meinem Alter von damals verträgt keine harte Pornografie. Wäre es so gelaufen, dann hätte meine Verwirrung erst in Händen von Schulpsychologen und Sozialarbeitern begonnen. Gewiss hätte man mich auf kollegialem Weg vertrauensselig gestimmt, damit die Frage griff, was ich beim Anblick der Bilder genau empfunden hätte. Eigentlich eine Intimität, die niemanden etwas angeht. Und ich hätte geahnt, dass es sich empfiehlt, die Wahrheit für sich zu behalten. Vielleicht hätte die amtliche Sorge meines Befragers mich zu schildern ermuntert, ich hätte mich nach Anblick des Bildes sogleich voll Ekel abgewandt.

Aber das wäre eine Falschaussage gewesen.

Denn freilich hatte ich rege in dem Heft hin und her geblättert. In Wahrheit erlitt ich weder Schock noch Irritation. Zwar war ich keineswegs erregt, jedoch schlicht fasziniert. Genauer fühlte ich eine sonderbare Erleichterung, die nachhaltig wirkte: Erwachsene waren mir bis dahin als sittsame, vom Leben reich geprüfte und somit abgeklärte Menschen erschienen, die weder weinten, noch närrische Dinge trieben. Unter keinen Umständen. Nun wusste ich:

Sie sind wie wir Kinder. Verspielt und mit Sinn für’s Paradoxe.

Wie hätte ich damals ein Opfer sein können, da ich doch bloss eine Wahrheit über Menschen gelüftet bekam?