Sollte Corona irgendwann vorbei sein, werden wir wenigstens zwei Dinge vermissen. Etwas Lustiges, nämlich das wohlige Kratzen am Nasenbein nach Ablegen der Schutzmaske, aber auch etwas Ernstes.

Seit vergangenem Frühjahr kommt es am Laufmeter zu Absagen von Sitzungen, Veranstaltungen und sonstigen Vorhaben, Anlässen und Projekten, privat wie beruflich. Gestrichen wegen Corona. Das schmerzt viele, sie sehen sich in ihrem Lebensunterhalt bedroht. Und sie würden ablehnen, wovon ich meine, dass wir es ernsthaft vermissen werden. Daher sind meine Ausführungen nicht an sie adressiert.

Was kaum auffällt: Mit den Absagen sinken auch die Erwartungen an das tägliche Leben.

Überhaupt fahren die vielen Beschränkungen zur Eindämmung der Grossseuche die zum Teil überzogenen Vorstellungen, wie das Leben ablaufen sollte, allmählich herunter. Zwar hungern viele unter uns nach den Spielräumen, die ihnen genommen wurden. Besonders die Quarantäne durchleben sie wie eine Hölle.

Andere jedoch atmen jetzt erst richtig auf.

Zum Beispiel punkto Mobilität. Es gibt Leute, denen es peinlich ist, wenn klar wird, dass sie noch nie eine grössere Reise unternommen haben, obgleich die Möglichkeiten dazu gewährleistet sind. Meine Mutter kam als Zwanzigjährige gar nicht erst auf die Idee, denn ihr waren Mittel und Gelegenheit dazu verwehrt. Genau wie jetzt in Umständen der Pandemie. Endlich versagen diese Leute nicht mehr.

Man muss sich damit abfinden, dass es Menschen gibt, die glücklich sind, wenn ihnen Möglichkeiten abhanden kommen.

Immer wieder stockt ihnen der Atem, wenn der Anspruch im Raum steht, sie sollten jeden Augenblick ihres Lebens in ein Abenteuer ummünzen, bei dem ein Höhepunkt den nächsten jagt. Der Grundsatz eines Work-hard-play-hard liegt ihnen einfach nicht. Die unaufgeregte Atmosphäre, die Corona über das Land legt, entspricht ganz ihrer Neigung.

Still für sich blühen sie auf. Der abgedämpfte Aussendruck lässt sie gedeihen.

Es nähme mich wunder, ob nicht der Eine oder die Andere ein kleines bisschen persönliche Trägheit hinter der Vernunft solcher Absagen infolge Corona versteckt. Das Virus als Grund, sich aus einer Leistung zu stehlen, eignet sich vorzüglich in vielen Lebenslagen. Diese intime Ökonomie bleibt verborgen unter dem öffentlichen Deckmantel einer Vorsorge, die sogar amtlich geboten ist. Vielleicht schmuggeln manche so ihr launisches Ungenügen angenehm durch den Alltag.

Vermissen werden wir die Nachsicht, dass die Dinge nicht so perfekt ablaufen müssen, wie wir es gewohnt sind.

Aber eben, nur solange Corona herrscht. Dann werden die Geschäfte wieder rollen, der Alltag einige Zacken wieder zulegen. Die Moderne kennt keine Mässigkeit. Sie reizt aus, was immer sich ergibt. Corona hat vielleicht diesen Schwung unterbrochen wie so manche vergangene Krise. Neuerung folgt auf Neuerung. Ansprüche und Erwartung passen sich an im Nu. So freute man sich an der Erleichterung, die die erste Autokorrektur von Rechnern brachte. Doktoranden war bis dahin eine gewisse Nachsicht in Sachen Rechtschreibung gewährt, wenn sie auf mechanischen Schreibmaschinen Fehler in ihre Texte schlugen.

Mit der Autokorrektur fiel diese Nachsicht weg. Und Stress kehrte zurück.

Ob Corona die Gesellschaft verändern wird? Die Hamsterei von Impfdosen, die weltweit im Gange ist, lässt das Gegenteil vermuten. Ein nervöses Gerangel wie früher. Der Liberalismus meldet sich zurück, indem Schwerreiche ins Ausland reisen und in den Kliniken, die letztlich ihnen gehören, noch vor ansässigen Bürgern sich impfen lassen. Ein erster Schmutzfleck aus der Zeit vor Corona. Die alte Rangelei ums Wasserloch hebt neu an.

Damit die Grosseuche uns wirklich verändert, müsste sie tiefere Furchen ins Gedächtnis schlagen.

Im Ansatz etwa so, wie es Menschen in ärmeren Weltgegenden gerade erleben. Zum Beispiel dort, wo sie Sauerstoffflaschen für kranke Angehörige ins Spital schleppen.