Noch nie ging es für mich jemals so richtig um die Wurst. Um Leben oder Tod schon gar nicht. Noch nicht. In Engpässe gedrängt, sagt man, wüchsen die Leute über sich selbst hinaus. Das ist mir bislang erspart geblieben. Leider. So stecke ich in meinem behäbigen Leben fest. Gewisse Fähigkeiten, die in mir schlummern, bleiben mir so unbekannt. Nicht so mein Augenarzt. Er hat Stalingrad überlebt. Als Soldat der Reichswehr.
Mein Augenarzt betreute mein Schielen von Geburt an bis zur Rekrutenschule. Drei Operationen führte er durch. Bei der letzten Untersuchung ging es um die Aushebung zur Armee. Meine Hoffnung, dass ich Untauglichkeit bescheinigt bekäme, zerstreute er von Anfang an. Siebzehn Wochen, die damalige Dauer der Rekrutenschule, sei nichts im Vergleich zu sechs Jahren, meinte er. Nordafrika und Stalingrad, zweimal verwundet. Ich war erstaunt. Zuletzt wollte er von mir wissen, wie es um die Wehrwilligkeit meiner Generation bestellt sei. Nicht besonders, war meine Antwort. Damals stand Verweigerung hoch im Kurs, zeitgleich mit der ersten Ökowelle, mit der wir damals liebäugelten. Wer kein Altpapier nutzte, galt als schlechter Mensch. Viele wie ich plapperten von Verweigerung, aber nur wenige zogen diese Sache durch. Sehr bald käme es ja zu einem Volksentscheid über die Abschaffung der Armee. Die meisten meines Alters seien dafür. Wir könnten keine Menschen töten.
Mein Augenarzt schmunzelte. Das hätte er sich auch nicht vorstellen können. Doch Töten sei leicht. «Was machst du, wenn dein Kollege neben dir tot ist und der andere mit einem Bauchschuss nach seiner Mutter schreit?» Ich ahnte, dass nun etwas von einer ungeahnten Grösse auf mich zukam. In die Hosen machen, erbrechen, vor Angst winseln oder einfach durchdrehen waren Antworten, die mir in den Sinn kamen. Aber ich zuckte nur mit den Schultern.
«Dann schiesst du ganz ruhig und präzis», war seine Antwort.
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