Zielsetzung geht über alles. Im Management, in der Freizeit, in Schule und Armee. Zu meiner Schande bekenne ich, dass ich mir noch nie in meinem Leben je ernsthaft ein Ziel gesetzt habe.
Bei meinem Eintritt in das Lehrerseminar nach vorschriftsgemässen neun Jahren Schule ergab sich die Diplomierung als Ziel schlicht aus der Sache selbst. Niemand verlangte von mir, dass ich diesen Abschluss als meine Wahl öffentlich bekräftigte. Etwa in der Art, wie Sportler ihr Ziel in Gold am Horizont beschwören. Mit Kampfgeschrei und Fäusteballen.
Ich wäre mir wie ein Lügner vorgekommen.
Angenommen ein Jugendlicher von heute bewirbt sich um eine Lehrstelle. In den Gesprächen wird er immer wieder gefragt, ob er diesen Abschluss wirklich wolle. Keine Ahnung, wie er sich dabei fühlt, der doch in erster Linie froh ist, wenn er überhaupt irgendwo unterkommt. Solche moralischen Versprechen sind nur verpflichtend, wenn die Wahl wirklich aus freien Stücken erfolgt. Das wäre hier nicht der Fall. Vielleicht ringt sich der Junge zu einem Bekenntnis durch, aus voller Brust, unterzeichnet sogar wie erwünscht ein Papier. In der Folge wird man ihn laufend auf seine Erklärung hin behaften: Du hast A gesagt, also gilt B und so fort. Die vermeintliche Freiwilligkeit wird für bare Münze genommen. Wie so oft in der Erziehung.
Auch in der Bildung gelten Lernziele als unverzichtbar. Erste Erfahrungen machte ich im Rahmen eines Kurses. Vor Jahren. Mein Hinweis, die Ingenieure des Apollo 11 Programms hätten in Schule und Ausbildung kein einziges Lernziel gesehen, wurde lediglich zur Kenntnis genommen. Im Übrigen ich auch nicht, wie ich ergänzte, aber das zählte sowieso nichts oder noch weniger.
Lernziele sollen begrifflich so in Worte gefasst sein, dass sie eindeutige Messbarkeit zusichern. Ein Lernziel hat das Verhalten zu beschreiben, das ein Kind an den Tag legt, wenn es den Lerninhalt wiedergibt, der zu diesem Ziel gehört. Die Zielsetzung ‘Die Schärferegel anwenden’ wäre zu unscharf. Es müsste heissen: ‘Die Schärfung in drei Minuten bei mindestens zwölf von fünfzehn Wörtern zutreffend einfügen oder streichen.’
Da wurde mir klar, dass diese Neuerung meine Arbeit als Lehrkraft bis in die Einzelheiten hinein bestimmen würde. Mit Lernzielen, so hiess es, werde die Selbstbestimmung der Kinder gefördert. Ich hingegen meinte, Lernziele seien in erster Linie dazu angetan, mich als Lehrkraft zu disziplinieren. Mein Verdacht erntete weder Zustimmung noch Ablehnung. Die Sache so zu deuten sei ganz mir selbst überlassen, meinten sie damals mit dem typisch hochmütigen Bedauern, wie es Konstruktivisten eigen ist. Ich gab zu bedenken, dass man die willkürliche Autorität des Lehrers, als ein ganzes Dorf sich vor ihm duckte, genauso zurechtgestutzt und geschliffen hat wie die des Arztes und des Pfarrers. Eltern und Behörden kuschten wie vor Gericht. Nun verhält es sich umgekehrt. Die Neuerung, Lernziele vorzuschreiben, erklärte ich mir in diesem Zusammenhang. Der Hinweis jedoch rührte an Grundsätzliches, was im Rahmen einer Weiterbildung meistens ausgeklammert bleibt.
Jugendliche von heute werden sattsam mit Lernzielen eingedeckt. Es sind hunderte, die sich auf Semesterende anhäufen. Die Jugendlichen haben sich ein Management angewöhnt, das es ihnen erlaubt, die Ziele rasch abzuhaken. Nach meiner Erfahrung halten sie sich nicht lange damit auf. Immerhin bedeutet die Verwaltung von Lernzielen einen zusätzlichen Aufwand. Schulleitungen weisen dich ausdrücklich darauf hin, dass du Lernziele an der Wandtafel stehen hast, falls jemand vom Amt zu Besuch kommt. Hauptsache ein Ziel steht da geschrieben. Was es bedeutet und wie es verfasst ist, scheint zweitrangig. Es gibt Kinder, die Lernziele als etwas Zusätzliches auffassen. Sie begreifen nicht, warum das wichtig sein soll, wenn sie schon die Aufgaben ohne diese Ziele korrekt lösen. Kinder vor der Pubertät zeigen noch erhebliche Mühe, auf die Reflexionsebene zu wechseln. Und Lernziele sind eben da angesiedelt. Den Gesichtspunkt von einer Metaebene einnehmen, setzt eine gewisse Reife voraus. Angeblich bestätigt die Wissenschaft diesen Zusammenhang, meines Wissens sogar unter dem Stempel von Piaget, derzeit ein Herrgott an Pädagogischen Hochschulen. Und die Wissenschaft stellt in Abrede, dass vorpubertäre Kinder bedingungslos dazu in der Lage sind. Aber darauf wird in der Schule keine Rücksicht genommen. Die Hörigen der Wirtschaft pflegen andere Schwerpunkte.
Vor Jahren hatte ich für kaufmännisches Deutsch einen ganzen Schullehrplan zu erstellen. Die Ämter zeigten sich grosszügig, sprich föderal, indem sie diese Arbeit den Lehrkräften anvertrauten, statt sie ihnen zu verordnen. Wir brauchten nur ein paar Eckwerte einzuhalten: Eine ganze Hierarchie von Zielen hatte ich zu bewältigen. Von Richtzielen, die vorgegeben waren, hatte ich Leistungsziele abzuleiten, die dann wiederum in Lernziele auszufächern waren. Diese sollte ich dann der Stundentafel zuordnen, wobei zum Beispiel Leistungsziel 66.4 erst im dritten Semester zu bearbeiten sei, und zwar in der gleichen Woche für Profil E zwei Lektionen, Profil G allerdings nur eineinhalb. Soweit die Grosszügigkeit der Ämter. Ehrlicherweise hätten sie das vollständig geordnete Curriculum gleich vorschreiben können, wie es in Deutschland üblich ist. Denn ich hatte geschlagene drei Wochen mit einer Arbeit zu tun, die mithalf, die betreffende Schule bildungspolitisch so auszurichten, dass sie anerkannt blieb.
Für den Unterricht erbrachte sie hingegen keinerlei Verbesserung.
Trotz all dieser fragwürdigen Feststellungen bleibe ich mit meiner These von der Disziplinierung der Lehrkraft allein. Vielleicht findet sich Klarheit, wenn wir danach fragen, woher Lernziele eigentlich kommen. Die Antwort findet sich rasch, schliesslich richtet sich Bildung seit Langem nach der Wirtschaft. Kniefällig, wäre zu ergänzen. Mit dem Vorwurf, Bildung bedeute der verlängerte Arm der Linken, hat man längst aufgeräumt. Zielformulierung ist im Projektmanagement das Ein und Alles. Immerhin sind dort Gelder zu verantworten.
Die Wirtschaft jedoch hat dieses Management nicht erfunden. Das Projektmanagement zumindest hat seine Wurzeln im Militär. Woher sonst? Die Streitkräfte der Vereinigten Staaten hatten im Zweiten Weltkrieg Güter und Munition auf zwei Fronten, im Pazifik und später in Westeuropa, zu verteilen. Das bedurfte einer Vorausplanung, die sämtliche Einzelheiten regelte, noch bevor auch nur ein Stück in die gewünschte Richtung bewegt wurde. Folglich schliesse ich mit einer Bemerkung, die mir doch etwas Genugtuung verschafft:
Der Krieg ist Vater aller Zielsetzung.
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