Die Luft wird dünn. Vorwürfe und Unverständnis nehmen zu. Auch Hass kommt auf. Am Bahnhof vernahm ich übers Gleis hinweg, wie jemand, der in Sachen Corona die Regeln genau befolgte, seiner Wut über Kollegen Luft verschaffte, die die Sache weniger ernst nahmen. Nun sei er allein. Im Stich gelassen. Wohl in Quarantäne.

Wie man zu Corona steht, hängt zunächst von Argumenten ab, die einen überzeugen. Auch Gewohnheiten spielen eine Rolle. Meine Eltern folgten unbeschwert den öffentlichen Anweisungen, wie sie es vom sozialmarktwirtschaftlichen Aufbau der Nachkriegsordnung her gewohnt waren. Andere sprangen sogleich auf Verschwörungstheorien an. Seither verkünden sie den Beginn einer neuen Ära. Wiederum andere wie ich gaben sich völlig unbekümmert. Das liegt daran, dass wir einfach nichts anderes kennen.

Ideologie und Gewohnheit bestimmen, was man für wahr hält.

Das ändert sich seit der zweiten Welle. Immer mehr Leute bekommen mit Corona zu tun, sei es unmittelbar oder im näheren Umfeld. Immer mehr Geschichten machen die Runde. Vom Kollegen, der einen Hautausschlag erleidet, kurz bevor er als Träger des Virus ausgewiesen wird. Oder die junge Frau, die sorglos mit transplantierter Niere lebt. Unter der Belastung des Virus stösst ihr Körper das fremde Organ ab. Immer mehr Betroffene werden bekannt, die bei bester Gesundheit der Unberechenbarkeit dieses Bruchstückes von Erbgut als Wirte zu seiner Vervielfältigung zum Opfer fallen. Die entsprechenden Meldungen kursieren auf privaten Kanälen. Das macht sie verlässlich. Wer öffentlichen Angaben zu Corona misstraut, wird hier eines Besseren belehrt. Was weiss man schon genau?

Die Wissensbestände zu Grippe füllen ganze Datenbanken. Was Corona angeht, schwitzt die Gesellschaft höchstens erste Erkenntnisse aus.

Umso mehr verhärten sich die Fronten. Die Ansteckungsketten, von denen regelmässig die Rede ist, bestehen wohl aus Fällen mit unterschiedlichem Krankheitsverlauf. Von harmlos bis kompliziert. Im schlimmsten Fall mit Todesfolge. Von diesem Moment an erübrigen sich ideologische Auseinandersetzungen über Corona. Wer wie denkt, ist vorbestimmt. Man braucht gar nicht erst das Gespräch zu suchen, in der Hoffnung, man würde so Klarheit gewinnen. Denn wer mit dem Virus zu tun bekommt, ob nun unmittelbar oder in näheren Kreisen, wird mit Einzelheiten darüber vertraut gemacht. So wechseln wir von allein ins Lager der Befürworter aller erdenklichen Massnahmen. Die Leute, die das Regime nach wie vor auf die leichte Schulter nehmen, zeichnen sich gegenüber Besorgten nur dadurch aus, dass sie bis anhin vom Virus verschont geblieben sind.

Und zwar aus blossem Zufall.

Der Hass bekommt ein klares Gesicht. Besonders dann, wenn Leichtsinnige andere anstecken, die pflichtbewusst vorgingen. Im dümmsten Fall durchleiden sie sogar schlimmere Symptome. Vielleicht hat der Leichtsinn sogar den Tod eines Risikofalles zur Folge. Mir ist die Geschichte eines Musikers bekannt, der im Frühjahr vom Bruder und seiner Familie unterstützt wurde, damit er es durch den Lockdown schaffte. Dafür übernahm er öfter die Kleinen und tätigte Besorgungen, um die Eltern zu entlasten. So kam es, dass er die Familie ansteckte. In der Zeit, da noch unklar war, wie die Sache verlaufen würde, urteilte ihn der Bruder als Mörder seiner Familie ab, sollte sich das Schlimmste bewahrheiten. Meines Wissens kam es nicht soweit. Doch die Wunde war geschlagen. Ich frage mich, wie man auf die Idee kommt, eine Ansteckung persönlich zu ahnden, da doch das Virus die ganze Welt in Atem hält. Welche Wege es nimmt, kann nur auf Zufall beruhen. Das müssen auch jene zugeben, die jede Massnahme peinlich genau befolgen. Bevor sie Schuldige ausmachen und sie mit Verachtung strafen, sollten sie bedenken, dass jede Massnahme für das Virus löcherig ist. Das zeigt das eingängige Emmentaler-Modell zur Pandemie, das in der Boulevard-Presse verbreitet wurde. Jede Massnahme stellt eine Schicht Emmentaler dar. Mit Löchern, versteht sich. Stellt man sie zusammen, wird der Erfolg für das Virus, da durchzukommen, zwar unwahrscheinlicher, bleibt jedoch durchwegs möglich.

Jederzeit und überall.

Wo immer eine Ansteckung erfolgt, bleibt für alle verborgen, ob sie auf Nachlässigkeit beruht oder darauf, dass das Virus bei aller Vorsorge zufällig alle Schlupflöcher passierte. Doch Kain und Abel melden sich zurück. Diese Geschichte greift nur, wenn wir uns als Geschwister im Menschengeschlecht begreifen. Einer Gattung, die von der Natur abermals unter Druck gesetzt wird. Jedenfalls ziehen die Leichtsinnigen unter uns besonderen Hass auf sich, wenn sie sogar locker und grossmäulig durch die Krise kommen.

Sie gelten als Günstlinge des Zufalls. Das sollten sie sich gut merken.