Das Thema musste ja kommen. Die Krise lobt die Treuen, sofern sie auch zuvor ihr Bett teilten. Ansonst herrscht Notstand. Das Rotlicht sei ausgeknipst, heisst es lapidar. Andere treibt es um, wie sie auf eineinhalb Metern Abstand anbändlen möchten. Das hängt davon ab, wie weit das umbuhlte Gegenüber seinen Schutz aufzugeben bereit ist. Allerdings gibt es eine Gruppe, die von all dem ungerührt durch die Krise steuert, ohne treu zu sein. Ausser sich selbst.

Die amtlichen Verlautbarungen müssten heissen: Habt keinen Sex. Man kann sich mühelos ausrechnen, wie sehr diese Weisung in den Wind gesprochen wäre. Wer weiss, wie viele von allen, die es nicht mehr aushalten, die Fallzahlen nach oben treiben? Diese Weisung würde vor allem ein paar scheue Mitbürger zum Lächeln bringen, die sich davon völlig unbetroffen wissen. Wenn ich die sechzehn Jahrgänge Mediamatiker überblicke, die ich als Fachlehrkraft beschulte, so finden sich darunter sehr wohl einige Kandidaten, die für diese unscheinbare Gruppe in Frage kämen. Für sie hat sich mit Corona in Sachen Sexualität kaum etwas geändert.

Es sind Autosexuelle oder Autoerotiker. Die Narzissten neueren Typs, die es an und für sich selbst tun.

Nach allem, was man darüber weiss, sind sie beiderlei Geschlechts. Diese Gruppe scheint im Wachsen begriffen. Ihre Orientierung halten manche für abwegig. Immerhin wurzelt Nächstenliebe in der Selbstliebe, wenn wir das Neue Testament zu Rate ziehen. Die Anweisung, die der Nazarener gibt, dass wir andere lieben, wie wir uns selbst lieben, ist gewiss nicht sexuell gemeint. Auch bezweifle ich, ob Autoerotiker deshalb stärker in sozialer Kompetenz abschneiden. Entweder sind sie übersättigt von der entfesselten Freizügigkeit im Netz, sodass sie zunächst gar nichts mehr zu begehren in der Lage sind. Oder sie sehen im mühsamen Abgleich mit anderen, bis es zu einer sexuellen Übereinstimmung kommt, keinen Sinn mehr, den zu leben sich lohnte. Oder was auch immer die Gründe für ihre Orientierung sind. Früher scheuten Autoerotiker harte Urteile, etwa sie seien unfähig zur Bindung und krankhaft scheu vor der pulsierenden Nähe anderer Menschen. Das dürfte hochgradig verunsichern. Genau genommen kann man auch Leute moralisch unter Druck setzen, die sich paaren. Wenn man bedenkt, was sie alles zu tun oder zu unterlassen bereit sind, wie sie sich verrenken und verleugnen, nur damit am Ende die innige Nähe zu einem Partner errungen wird, so könnte man ihnen ebenso leichtfertig panische Angst vor Einsamkeit unterstellen. Sie verraten sich, nur um Sex mit anderen zu haben.

Unerhört, was sich alles moralisieren lässt. Wir Menschen hadern mit Skrupeln, sehen überall Dämme brechen, wenn man die Zügel auch nur leicht schleifen lässt. Dafür gibt es klare Gründe. Genauso wie für Autoerotik. Und wir halten an Werten fest, damit wir möglichst unaufgeregt unser Leben führen.

Im Vergleich dazu verhält sich das Leben insgesamt doch sehr unbedarft, was Mittel und Möglichkeiten anbetrifft. Es liegt jenseits aller Moral, wobei zu sagen ist, dass Moral ihrerseits als ein Mittel erscheint, das das Leben zu unbestimmten Zweck einsetzt. Das Leben scheint die Begierden unter seinen Organismen so zu streuen, dass die Wahrscheinlichkeit für Fortpflanzung gewährleistet bleibt. Oder die Lust bekommt eine kulturelle Bedeutung, wie es sich für die grosse Evolution gehört. Das mag heissen, was es will, der Zweck dieser Lustformen als Kultur für das Leben an sich dürfte uns ohnehin verborgen bleiben. Immerhin gibt es vielfältige sexuelle Orientierungen, aber auch Fetische aller Art.

Die Pflege der Begierde selbst ist lebenswert, ihr Gegenstand fällt als zweitrangig zurück, mehr noch als zufällig. Wenn jemand sein eigenes Fleisch begehrt, kann er das als Zufall abbuchen. Im Übrigen verliert seine Begierde deswegen kaum an Lebendigkeit. Autoerotik hält Schritt mit der zunehmenden Vereinzelung unserer Gesellschaft. Seit Langem komme ich nicht umhin, diese Vereinzelung als Entwicklungsschritt der Menschheit zu sehen, wo immer das hinführen mag. Vielleicht gehört sie zu den inneren Regulierungen, die den Bestand an Menschen weltweit in der Balance hält, da uns natürliche Feinde fehlen. Abgesehen vom Virus zum Beispiel. So kommt es eben zu kultürlicher Regulierung, wie Hormone im Trinkwasser, die zu männlicher Unfruchtbarkeit führen. Kriege gehören leider auf diese Liste. Und eben die Vereinzelung, ob sie nun autosexuell orientiert ist oder nicht.

In einem Elementargeisterbuch steht geschrieben, wir Menschen seien bis vor Kurzem wie Wälder gewesen, ohne Glanz in den Augen. Nun aber seien wir zu Bäumen geworden. Und das wäre gut so.

Vielleicht sollte man Autoerotik als eine zeitgemässe Form persönlicher Souveränität wertschätzen.