Kinder schielen nach der Reaktion von Erwachsenen, wenn sie sich stossen. Sie überprüfen, für wie schlimm der Vorfall eingeschätzt wird. Erst dann wird geweint oder eben nicht. Auch wir Erwachsenen äugen nach Normen, damit wir unser Verhalten anpassen. Oder es rechtfertigen. Je nach Situation wirken sie auf uns sogar wie eine Verführung.

Da kommt zum Beispiel eine Frau mit einem Mann zusammen, er schickt Rosen, man verabredet sich, die Sache wird ernst, sie lädt ihn ein, bekocht ihn, es gibt einen Salat vorneweg mit Zitrone beträufelt statt Essig, wobei sich dummerweise ein Kern der tropischen Frucht unter Blätter und Avocado-Stücke gemischt hat. Eine bittere Geschichte, die dazu führt, dass ihr Gast einen jähen Wutanfall bekommt, gewürzt mit der Ernüchterung, dass seine mögliche Partnerin in der Pflege von Einzelheiten versagt, die für ihn lebenswichtig sind. Die Störung, unerwartet auf etwas Hartes zu beissen, das obendrein entsetzlich bitter schmeckt, wird ihm anhaften, in ihm nachhallen für geraume Zeit.

Mit ihrer Nachlässigkeit verrät sich auch seine Hochsensibilität, deretwegen der Mann seit Jahren einsam lebt. Auch die Frau verarbeitet diesen Moment des Schreckens, wird sich davon jedoch rascher erholen als er. Alarmiert von diesem Vorfall gilt es für sie das Weitere zu bedenken, auch wenn ihr Partner in spe sich mehrfach entschuldigt hat, nämlich ob sie die Beziehung wieder beenden oder auf Besseres hoffen soll. Dabei erwägt sie die Norm, dass man unmöglich von jemandem verlangen kann, mit einer Person Tisch und Bett zu teilen, die solcher Ursachen wegen in Rage gerät.

Angenommen, sie würde es dennoch mit ihm versuchen, geriete aber nach Monaten an die Grenzen des Erträglichen, so würde sie der Zustimmung aller sicher sein, mit denen sie sich über die notwendige Trennung austauscht. Die Norm böte ihr einen sicheren Ausweg. Sie verführt sie vielleicht dazu. Ein betont christlicher Mensch würde urteilen, dank dieser Norm wiche sie einem Auftrag aus, den das Leben, sprich Gott an sie stellt. Nämlich ihr Leben mit einem hochsensiblen Menschen zu verbringen. Doch Christen teilen andere Normen als wir in Umständen so genannt modernen Lebens.

Die Versuchung, die Normen ausüben können, wird klar, wenn die Situation unproblematisch ist. Zum Beispiel bei dem sonst traditionsbewussten Typen, der noch kurz vor der Hochzeit ein amouröses Abenteuer  in die Wege leitet oder durch das Rotlicht kurvt. Aus seiner Sicht beginnt die Treue erst mit dem allseits bezeugten Ja-Wort. Für ihn undenkbar, dass er die Beziehung zu seiner Zukünftigen auch ohne Trauschein verrät. Die Norm will es anders. Angenommen, er würde mit der Tatsache zu tun bekommen, dass seine Frau später jedes Mal eine Blasenentzündung durchzustehen hat, wenn er sie beschläft. Dann geht sie mit Bedauern für einige Tage auf Abstand. Von früher gilt die Norm, dass der Mann die Familie ernährt und beschützt, während ihre Gegenleistung unter anderem darin besteht, dass sie ihn befriedigt, so oft ihm danach ist. Also sieht sich der Mann berechtigt fremdzugehen. Von allen erntet er Zustimmung, die er in dieser Sache ins Vertrauen zieht. So kommt er gar nicht erst darauf, er könnte weniger grob zu seiner Frau sein und mit etwas Tantra seine Triebmaschinerie zu gepflegtem Anstand verfeinern.

Normen verfehlen das meiste, was von ihnen abweicht. Das klingt selbsterklärend. Dennoch sollte man sich vor Augen führen, dass der Ausschuss, den Normen hervorbringen, in seiner ganz bestimmten Lebendigkeit vollgültig ist.

Nur schon in der demütigen Aufgabe, dass Abweichungen bestimmte Normen umso klarer herausstellen.

Normen ermöglichen genauso viel, wie sie verhindern. Sie bilden eine Öffentlichkeit, die Austausch erlaubt, insbesondere Handelsbeziehungen, und Zusammenarbeit ermöglicht. Nicht nur für Vertragsschlüsse sind sie unverzichtbar. Auch Freundschaften leben davon. Zum Beispiel gilt die Regel, dass Freunde keinen Streit anfangen. Streit würde die Freundschaft sogleich aufkündigen, da ein weiteres Band fehlt, wie es Ehepaare oder Geschwister zusammenhält. Normen stellen eine Art mehrfacher Kompromissleistung dar. Als eine Abstraktion konkreten Lebens ruhen sie wie Schaum auf seiner pulsierenden Masse. Sie gleiten in der Zeit, verschieben unmerklich ihren Schwerpunkt, besonders von Generation zu Generation, irgendwann verflüchtigen sie sich.

So betrachtet haben Normen in Intimbeziehungen nichts verloren. Nicht in Familien, nicht in Paarbeziehungen.

Wenn dort Liebe sein soll, dann schert sie sich keinen Deut um Norm oder Abweichung.

Normen aber bieten Auswege aus verstrickter Intimität. Für die einen führen sie in die Freiheit, andere jedoch erleben sie als Verrat.