Die Weltoffenen unter uns begeistern sich für die Vielfalt an Kulturen. Sie betonen das Gemeinsame unter Menschen weltweit. Ihre Begeisterung verstummt jedoch abrupt, sobald es um Frauenbeschneidung geht. Da hört alle Gemeinsamkeit auf. Das ändert nichts daran, dass diese empfindliche Verstümmelung in einem Grundsatz verankert ist, der uns auch heute genauso am Herzen liegt.
Mit Hygiene hat das nichts zu tun, wie es etwa bei der Beschneidung von Männern der Fall ist. Im Vergleich zu dem, was Frauen erleiden, müsste man ihnen die Eichel wegschneiden. Die Sache dreht sich um Sex. Einmal mehr. Diese ausgeprägteste aller Wonnen der Natur wird durchwegs Regeln unterzogen. Auch Indigene machen nicht querbeet herum, wie wir es ihnen gerne unterstellen, als lösten sie soziale Spannungen im Stile der Bonobos, immerhin nahe Verwandte von uns, die sich augenblicklich begatten, sobald Ärger aufkommt. Auch Indigene ziehen sich zu Intimität und Fortpflanzung verschämt ins Gebüsch zurück.
Nun gibt es Masssnahmen, die die Frauenbeschneidung an Brutalität weit untertreffen: Die Muslima verbirgt ihre Haare unter einem Kopftuch. Ihre Pracht ist dem Ehemann vorbehalten. Jüdische Ehefrauen tragen Perücken, sofern sie orthodox leben. Vielleicht soll sie das reizarm machen. Der Grund für diese Regulierungen? Der Sex an und für sich ist nicht das Problem. Die Tatsache, dass er den Unterschied zum Tier deutlich in Frage stellt, bereitet den Menschen zwar seit je Unbehagen. Die eigentliche Schwierigkeit liegt jedoch woanders. Es geht um das, was Sex in einem Gemeinwesen anzurichten in der Lage ist.
Sehr oft nämlich veranlasst er zu Eifersucht. Und Eifersucht zersetzt alle Bande.
Ehen zerbrechen, Familien sprengt es auseinander, Freundschaften entfremden sich. Ehrenmorde treten noch heute eine Blutspur los, die ganze Sippschaften zerrüttet. Die Einheit des Gemeinwesens aber ist überlebensnotwendig. Für alle Beteiligten. Diese Einheit steht über allem. So kam es, dass sich die Bororo, die Levi-Strauss beschreibt [6. Teil], die Ordnung ihres Stammes als ausgeschmückten Plan ins Gesicht tätowierten.
Was den Sex betrifft, so lassen sich die traditionellen Regeln, die ihn disziplinieren, auch so lesen, dass sie dazu angetan sind, Eifersucht vorzubeugen: Zum Maientanz finden sich noch heute die Appenzellerinnen in einer Tracht ein, die wie ein Signal ihren Status anzeigt: Ein purpurnes Band gibt die Trägerin als ledig zu erkennen, ein schwarzes zeigt an, dass die Frau verwitwet ist. Beide darf und soll man umwerben. Umgekehrt tragen Verheiratete gar kein Band. Ein Flirt mit ihnen untersagt sich für alle sichtbarlich. Hochzeiten sind traditionell. Auch sie bedeuten eine Regulierung von Eifersucht. Sämtliche Gäste einer Hochzeit sind Trauzeugen, nicht nur die beiden, die dazu von amtlicher Seite abbestellt sind. Alle Gäste vernehmen das Ja-Wort. Nun wissen sie, dass diese Frau und dieser Mann vom Markt sind. Sie stehen für eine Beziehung nicht mehr zu Verfügung, ebensowenig für eine abenteuerlustige, jedoch flüchtige Intimität. Und der Ring, der getauscht wird, versinnbildlicht in einer Deutlichkeit, die wenigen geläufig ist, weiter nichts als Fruchtbarkeit, sprich Geschlechtsverkehr. Bleibt der Akt in einer Ehe unvollzogen, gilt sie selbst aus erzkatholischer Sicht für ungültig.
Sex ist eben leichter zu regulieren als die Eifersucht, die maskiert und berechnend vorgeht. Wer sie ahndet, verheddert sich leicht in einem Gewirr von Deutungen. Eifersucht lässt sich notfalls so hinbiegen, dass sie als Missverständnis kaschiert bleibt.
Aber was geht uns das an? Noch heute hängen wir von einem Gemeinwesen ab, wie wir es in Zeiten von Corona schmerzlich nachvollziehen. Diese Abhängigkeit hat sich allerdings verändert. Nun ist es die Gesellschaft selbst mit ihrer Arbeitsteilung und ihren Versorgungssystemen, die Druck macht. Dieser Druck bekommen zum Beispiel jene zu spüren, die Mühe haben, bis ins Alter einer einträglichen Arbeit nachzugehen. Mag sein, dass die wirtschaftlichen Vorzüge, die uns heute zu Eigenständigkeit verhelfen, der Eifersucht unter uns ihre Spitze nehmen. Trotzdem bleibt Sex nicht einfach so freizügig. Die Liste der Massnahmen, besser gesagt Gewohnheiten, reicht bis zu feinen Unterschieden, die uns kaum bewusst sind. So halten Frauen nach wie vor die Schenkel geschlossen, wenn sie im öffentlichen Verkehr unterwegs sind. Die Leute mögen im Netz eine Freizügigkeit ohne Beispiel ausleben, in der unmittelbaren Begegnung spielt Scham weiterhin eine Rolle. Heute dreht sich die Sorge weniger um Eifersucht, wenn es um Sex geht, als vielmehr um die eigene Persönlichkeit und ihre Geschichte: Bin ich also jemand, der von all den Lüsten überfordert ist? Der fremdgeht? Der Pornos geniesst? Der mit über zwanzig Jahren noch immer keinen Sex hatte? Wir wissen, dass wir früher oder später auf dieses Leben zurückblicken werden. Die Selbstregulierung punkto Sex erfreut sich auch in heutiger Zeit bester Gesundheit. Und die Werte, nach denen wir uns orientieren, haben immer noch viel mit unserer Vergangenheit zu tun.
Jedes völkische Gemeinwesen bewältigt das Dilemma, dass es Fortpflanzung zu seinem eigenen Fortbestand anreizen muss. Gleichzeitig aber gilt es, dafür Sorge zu tragen, dass dieses Gelüste nicht überkocht. Sex wird reguliert, doch die Methoden sind verschieden. Sie bilden die Dringlichkeit ab oder die Umstände, unter denen das Gemeinwesen zu bestehen hat. Wir leisten uns feine Regulierungen, die man sogar missachten darf.
In Afrika scheint das gemeinsame Überleben nur dann garantiert, wenn man gut die Hälfte der Mitglieder einer Gruppe vorweg sexuell unempfindlich macht.
Ich weiss, diese Gedanken klingen in Ohren Geschädigter wie Hohn. Daher sind sie nicht an sie adressiert.
Sondern an uns, wenn wir einmal mehr die Kultur Afrikas als rückständig und barbarisch verurteilen.
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