Sollte der Chef von Amazon Jeff Bezos den Gewinn, den er dank Corona eingefahren hat, gemeinnützig umverteilen? Ich meine Ja.
Für eine liberale Gesinnung, die Bezos zu unterstellen naheliegt, bedeuten Gemeinnutz und Umverteilung eine Zumutung. Die liberale Gesinnung aber ginge nur auf, wenn die Lebensbereiche dieses Planeten unendlich Platz böten. Ausserdem enthält sie Grundsätze, die den meisten widerstreben. Dass zum Beispiel der Zufall alles Mögliche sogar moralisch rechtfertigen soll. Unter Liberalen kursiert die Überzeugung, dass man die Verhältnisse ändern soll, wenn sie einem gegen den Strich laufen. Gelingt es nicht, soll man einfach weiterziehen. Dieser Grundsatz verrät den nordamerikanischen Siedler als Keimling des Liberalismus. Ein geraumes Zeitfenster lang gab es dort reichlich Platz für alle. Ausser für Indianer, wohlgemerkt.
Heute ist das nicht mehr der Fall. Die gegenwärtige Krise, die dich beruflich und gesundheitlich bedroht, kannst du nicht ändern, also ziehe weiter. Aber wohin, bitte schön? Es herrscht Pandemie. Der Grundsatz des «Change it or leave it» hat bei dieser planetarischen Dichte ausgedient. In der Berufswelt hingegen lebt er munter weiter. Dass man kündigt und weiterzieht, auch mit Familie, auch mit Schulden, die sich aus früheren Notlagen ergaben, das klingt zunächst machbar. Allerdings lassen sich Fälle heranziehen, bei denen dieser Grundsatz zu Hohn verkommt, zur blossen Verachtung. Man weiss, dass Flexibilität ab einer gewissen Härte und Häufigkeit die Menschen schädigt.
In Sachen Notlage hat der Liberalismus eine doch recht sonderbare Einstellung, wenn man alle die Kulturen, Religionen und Ethiken überblickt, die es je gegeben hat. Die Sache liegt klar: Jemanden in Not keine Hilfe zu leisten, steht überall ausser Frage. Ausser im Liberalismus. Das muss man genauer angehen: Liberale wollen sich aus freien Stücken zur Hilfeleistung entscheiden können. Was ihnen gegen den Strich läuft, ist die Zwängelei anderer. Also sollten wir Bezos Zeit lassen, dass er von selbst auf die Möglichkeit kommt, den Corona-Gewinn abzugeben. Denn für ihn ist es eine Möglichkeit, aber ganz gewiss keine Notwendigkeit wie für andere, als wäre es ein Naturgesetz.
Wenn er es aber nicht will, dann will er es nicht. Punktum.
Als Liberaler sollte es ihm streng genommen peinlich sein, dass der Zufall ihn derart begünstigt hat. Schliesslich steht die Eigenleistung bei Liberalen hoch im Kurs. Streng genommen müssten sie bei allem, was ihnen einfach so Vorteile zuspielt, eine Art Demut einnehmen. Oder es abweisen. Aber das scheint ihnen egal zu sein. Ein Verhalten, das bei Trump sehr deutlich wird. Immerhin gibt es ein Gedankenexperiment von Milton Friedman zum Problem, ob überschüssiges Privatvermögen umverteilt werden soll. Es dürfte zum Grundbestand liberalen Argumentierens zählen. Friedman [p 196-97] stellt vier Robinson Crusoes vor, die alle an einer anderen Insel stranden. Die eine Insel ist üppig bewachsen, die anderen karg, immerhin lässt es sich dort mehr schlecht als recht leben. Friedman meint, es bestehe kein Zwang, der es den anderen drei erlaube, den einen Crusoe dazu zu nötigen, dass er seine Vorzüge mit ihnen teilt.
Eine seltsame Situation: Es besteht kein Zwang, und das soll die drei Crusoes nötigen, dass sie sich enthalten, den vierten zu zwingen. Wie kann ein Zwang, der nicht da ist, jemanden zwingen? Das irritiert jedoch nur am Rande. Wichtiger ist Friedmans zentrales Anliegen. Denn er erklärt [ebd.], mit einer weltweiten Geschenkverteilung gäbe es keine Zivilisation. Zu ergänzen wäre: keine liberale Zivilisation. Und die hat es in Reinform noch gar nie gegeben, also nur mit minimaler Zentralisierung. Hier wird klar, dass Friedman sich in erster Linie gegen den Stalinismus der 60er-Jahre richtet. Nur so wird sein dürftiges Gedankenexperiment verständlich. Interessanterweise bestand bei reichen Römern genau diese ungeschriebene Pflicht genannt Euergetismus, nämlich dass sie überschüssiges Privatvermögen an die Öffentlichkeit verteilten, meistens indem sie Tempel oder Rennbahnen spendeten. Und Römer, so ist anzumerken, gelten bei uns noch heute als Zivilisation schlechthin.
Der vierte Crusoe argumentiert also: Es besteht kein Zwang, dass ihr Hilfe von mir einfordert. Dieses gedankliche Beispiel lässt sich verändern, etwa indem man die Bedürftigkeit der drei Crusoes verstärkt. So könnten sie blutüberströmt vor der Tür des vierten Crusoes liegen, infolge eines Sturms, vor dem dieser zufällig verschont blieb. Wie könnte er nun einen fehlenden Zwang zur Hilfeleistung beanstanden?
Bezos Geschäft nutzniesst zufällig von der Corona-Krise. Es liegt nicht daran, dass er besser gewirtschaftet hätte. Gewisse Berufe geniessen in der Krise Schutz, sie heissen systemrelevant, während andere vor die Hunde gehen, obwohl auch sie wie Bezos tadellos gearbeitet und sich bestens auf dem Markt bewährt haben, sicher bis Corona, so etwa kleinere und mittlere Unternehmen oder Selbständige. Liberale jedoch sind Freunde der Lehre von der natürlichen Auslese. Und womöglich erachten sie es als Ehrlichkeit, wenn sie mit Bedauern zum Schluss kommen, dass schlecht Angepasste eben untergehen. Folglich sollten sie auch befürworten, dass man Frühgeburten oder Schwerstbehinderte sich selbst überlässt.
Liberale befürworten den Wettbewerb. Die Evolutionslehre ist von Anbeginn an davon durchtränkt, schliesslich war Darwin von ökonomischen Überlegungen beeindruckt. Liberale könnten das Überleben in Zeiten von Corona als Wettbewerb auffassen. Dann würde klar, dass die Startbedingungen massiv ungleich sind. Wie es in der Gesellschaft überhaupt der Fall ist, auch ohne Corona. Daraus kann sich kein lauterer Wettbewerb ergeben. Die Startbedingungen müssten wie etwa bei der Leichtathletik kalibriert sein. Das ist nicht der Fall. Liberale haben also die Unlauterkeit eines weltweiten Wettbewerbs anzuerkennen.
Im Übrigen brechen Menschen seit je den Einfluss natürlicher Auslese, indem sie Bedürftiges pflegen und fit machen. Sie verteilen um, springen bei, was immer ihre Beweggründe dazu sein mögen.
Die Evolutionslehre spricht eben nicht das letzte Wort. Es gibt wissenschaftliche Theorien, die genauso umfassend angelegt sind, jedoch überall, also in Natur wie Kultur Zusammenarbeit und vorläufigen Verzicht auf eigenen Vorteil verwirklicht sehen. Ein Liberaler sollte Antwort darauf geben, warum er die Evolutionstheorie vorzieht. Er wird stumm bleiben, denn die Frage erscheint ihm als Zwängelei. Freilich richtet sie sich auch an die Gegner, wenn sie die Theorie der allgemeinen Kooperation zum Richtmass erheben.
In beiden Fällen dürfte die Antwort weniger mit schlüssigen Argumenten zu tun haben, denn die laufen immer oder oft aneinander vorbei.
Eher geht es bei dieser Wahl um die Geschichte des persönlichen Lebens.
Zuletzt führe ich eine altmodische Auffassung von Menschsein gegen die liberale Gesinnung ins Feld. Demnach beruht der Unterschied der Lebensformen, den Menschen miteingerechnet, auf einem bestimmten Verhältnis von Erkenntnis und Ausdruck. So hat man früher bestimmt, was Geist sein soll. Nämlich je mehr ein Organismus von seiner Umwelt erkennt, desto mehr bringt er zum Ausdruck. Sollte Bezos keine Dringlichkeit darin sehen, seine zufällige Begünstigung auf andere umzuverteilen, die trotz ihrer Tüchtigkeit der Krise zum Opfer fallen, verhält er sich wie ein Organismus, der mehr einbezieht, als er zum Ausdruck bringt.
Es zeichnet das Menschsein besonders dadurch aus, dass es fremde Not wahrnimmt und Zuwendung zum Ausdruck bringt.
Denn wir verstehen, dass die fremde Not nur zufällig nicht die eigene ist. Sie könnte es aber sehr wohl sein.
Dieser Auffassung nach verfehlt Bezos sein Menschsein.
Er verhält sich eher wie ein Schwein, das zufällig auf einen Haufen Trüffel stösst und sie alle verköstigt, ohne sie zu teilen.
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