Bastl

Von West bis Ost und zurück vernimmt man immer wieder die Klage, bestimmte Lehren oder Methoden würden verfälscht. Einmal mehr sind sie mühselig zu bereinigen. Diese Klage von der falschen Lehre halte ich für – falsch.In allen Bereichen menschlicher Bemühung um eine Klarheit, die alles umfasst, seien es Religionen, Philosophien oder Wissenschaften, oder was immer dazwischen laviert, kommt es früher oder später zu Abweichungen von der ursprünglichen Lehre. Die Strömung gabelt sich auf. Es kommt zu Neugründungen von Schulen. Von Verrat ist die Rede, von Niedergang. Irgendwann vermischen sie sich oder stossen sich noch mehr ab bis zur Verhärtung. Für Puristen des reinen Anfangs eine Katastrophe schlechthin. Konfuzius, Sokrates, Jesus und Buddha zählen als massgebliche Gründer zum Teil wider Willen, denen je eine Gruppe Systematiker zugeteilt wird. Dazwischen herrscht desto mehr Streit, je feiner die ursprüngliche Lehre ausgelegt wird. Was wir für Einheit halten, steckt voller Konflikte: Sokrates, Platon und Aristoteles nimmt man als Dreigestirn wahr, als Keimzelle europäischer Kultur. Dabei bestehen konfliktreiche Unterschiede gerade zwischen Platon und Aristoteles. Auch die Tiefenpsychologie bildet bei näherem Hinsehen keine Einheit. Jung hat sich aus sachlichen Gründen von Freud gelöst. Allerdings auch deshalb, weil Freud ihm während einer Überfahrt nach England einen persönlichen Traum aus Angst vor Autoritätsverlust verschwieg. Der Protestantismus erlitt zigfache Teilung und Ausfächerung. Da gibt es Pietisten, Evangelikale, Calvinisten, Jehovas Zeugen, die Pfingstgemeinden, Methodisten, Täufer und Wiedertäufer. Und sie alle verkünden eine reine Lehre, deren Licht sie zum Erstrahlen bringen, indem sie den Schatten gegnerischer Überzeugung heraufbeschwören.

Derzeit stehen angeblich die Anthroposophen vor der heiklen Aufgabe, die Begrifflichkeiten ihres Gründers Rudolf Steiner zu überarbeiten. Das könnte Mitgliederschwund bedeuten oder gar Teilung der Bewegung. Man weiss, dass die Waldorfschulen nur deshalb überleben, weil man die Lehre im Kontakt mit Behörden und Eltern ganz bewusst nicht zu Wort kommen lässt. Dann wäre nämlich von Luzifer und luziferischen Kräften sowie von Ahriman und ahrimanischen Kräften die Rede. Letzteres stammt aus dem persischen Zoroastrismus. Ferner gäbe es da noch die hauseigene Rassenlehre, die heutzutage beinah notwendig missverstanden wird.

In Indien treten Gurus zwar immer einzeln auf, ohne dass sie Anstalten machten, sich mit anderen Gurus zu verbinden, etwa zu einer politischen Partei. Das liegt vielleicht daran, dass sie gemäss Tradition eher paternalistisch oder gar royalistisch eingestellt sind. Immerhin jedoch teilen Gurus nicht gegeneinander aus. Noch nie habe ich einen Guru über einen anderen und dessen Schule schlecht reden gehört. Denn Inder wissen, dass mehrere Wege zum Ziel führen. Hingegen was die Überlieferung betrifft, gibt es durchaus Breitseiten gegen andere. So heisst es vom Ayurveda, er sei zigmal falsch weitergegeben worden, entweder aus Unkenntnis oder aus Eigeninteresse. Wesentliches ging immer wieder vergessen oder wurde nur oberflächlich behandelt oder schlicht falsch ausgelegt. Dabei wird Dummheit beklagt, Eigensucht, Verfall. Niemand jedoch erwägt, dass einfach andere Interessen ins Spiel kommen. Schliesslich ändern sich die Lebensverhältnisse fortwährend.

Zum Glück treten immer wieder Helden der Berichtigung auf. Und natürlich haben wir jetzt dank der Vermittlung grosser Rishis die ursprüngliche Lehre in Reinform vor uns. Aber wer garantiert das?

Diese Frage interessiert mich gar nicht. Denn immerhin ist eine Lehre aus der Welt zu mir gelangt.

Muss sie denn ursprünglich sein?

Und rein?

Oder kann es sein, dass all die Puristen und Reinheitsversessenen das Leben verkennen? Sofern wir eine kulturelle Evolution annehmen, sollte klar werden, dass sich das Leben insgesamt kaum mit irgendeiner reinen, aber sehr dünnen Lehre abfindet. Solche radikalen Konzepte haben zweifellos dringende Beweggründe, aber sie sind zu einseitig, um all die Belange abzudecken, die das Leben betreffen.

Mit leuchtet eher ein, dass das Leben insgesamt die Reinheit einer Lehre oder Methode gewiss zulässt, darüber hinaus jedoch die Abweichung fördert, die Fälschung, mehrfache Verdrehung, wie es die lebensnotwendigen Eigeninteressen eben verlangen, der Sturz kopfüber ins Gegenteil, die Verleugnung und Verdrängung, das Herauspflücken nach Belieben und anders Zusammenfügen, das mehrfache Missverstehen und verkehrt Berichtigen, all das, was man Rezeption nennt, wenn fremdes Gut aufgenommen und zum Eigengut angepasst wird. Gewisse Lehren gehen unter und tauchen unter anderen Vorzeichen wieder auf, etwas zerknittert und zerknautscht, oder Teile davon überleben in schlecht beleuchteten Winkeln menschlichen Lebens.

So ist doch das Leben schlechthin. In dieser Lehre, wie ich sie hier darlege, bin ich natürlich knallharter Purist.

Und wehe denen, die sie verfälschen.