Bastl2

Unsere friedfertige Wohlstandsgesellschaft wird von unmerklichen Fronten durchzogen: Zwei Familien sind verfeindet. Schöpfungsgläubige auf der einen, bekennende Atheisten auf der anderen Seite. Die Mädchen meiden sich, sonst lassen sie sich nichts anmerken. Schwierig, diesen Leuten beizubringen, dass sie im gleichen Boot sitzen.

Der Sinn unseres Lebens lässt sich aus religiöser Sicht handlich darlegen: Gott hat uns geschaffen und in eine schwierige Welt entlassen. Daraus holt er uns erst zu sich nach Hause, wenn wir ein gutes Leben geführt haben. ‘Gut’ bedeutet hier in Rücksicht auf andere. Das ist der Sinn eines persönlichen Lebens. Solches wird gerne freudvoll gepredigt. Die Frage aber, was für einen Sinn dieser Ablauf erfüllt, welcher Zweck also der gesamten Schöpfung zukommt, mehr noch woher eigentlich Gott stammt und worin der Sinn seiner Existenz liegt, lässt diese Freude ermatten, bis klar wird, dass solche Fragen unerwünscht sind.

Denn jede Antwort, die gefunden wird, wirft die gleiche Frage erneut auf. Das nennt man infiniten Regress. Was für einen Sinn macht es, wenn wir ewig vor Gott sein sollen? Wenn wir für immer im Nirwana tümpeln, nachdem wir unser Karma erfüllt haben? Die Antwort könnte lauten: Da der Überkosmos, der alles einhüllt, in Richtung Punkt Omega sich fortentwickelt. Und sofort folgt die Frage auf dem Fuss: Wozu diese Entwicklung? Und warum dieser Punkt Omega? Und wo soll der sein?

Ausnahmslos jede Religion, möchte ich behaupten, unterbricht diese endlose Reihe, indem sie das Weiterfragen mit einem Tabu belegt. Wir Menschen mögen mit der Endlichkeit hadern, das eigentliche Grauen befällt uns, wenn wir uns auf die Unendlichkeit einlassen.

Da alles schon immer war und auf ewig sein wird.

Kein Anfang, kein Ende.

Einfach so.

Ähnlich verhält es sich bei Wissenschaftsgläubigen, die wir sind. Gläubige deshalb, da niemand auch nur im Ansatz in der Lage ist, neuste Befunde eigenhändig auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Wir sind längst jenseits von Descartes angekommen. Der Urknall mag Vieles erklären, begreifbar ist er genauso wenig. Niemand versteht eine Schöpfung aus dem Nichts. Oder wie soll ein Kosmos mittels Explosion aus dem Nichts entstehen? Die Schöpfung verkörpert immerhin eine Ordnung, die uns einleuchtet. Wie aber soll es der Fall sein, dass aus dem völligen Durcheinander, das jede Explosion bewirkt, überhaupt eine Ordnung wie das Leben hervorgehen soll?

Auch in der Wissenschaft stossen wir auf infinite Regresse zuhauf. Zum Beispiel kann man die Frage stellen, wo sich der Raum namens Weltall, in dem die Galaxien sich ausbreiten, eigentlich genau befindet. Was liegt daneben? Was dahinter? Oder sollen wir auch hier etwas annehmen, das schon immer war und nie enden wird? Die Sache mit dem Huhn und dem Ei kennen alle. Kleinstteilchen zerfallen in weitere Kleinstteilchen, wie im Cern belegt wird, wo man Positronen auf Elektronen schiesst, sodass sie zersplittern. Von einem Unteilbaren genannt Atom keine Spur. Die Ketten von Ursache und Wirkung sind als unendlich anzunehmen, denn ein Uranfang wäre aus wissenschaftlicher Sicht die naive Wiedereinführung von Gott.

Immerhin belegt die Wissenschaft jede Frage, die weiterführt, mit keinem Tabu. Im Gegenteil gehört sie zu ihrem Kerngeschäft. Dieser Unterschied zur Religion, dass es dazu kein Tabu gibt, beruht meines Erachtens darauf, dass Wissenschaft soziale Sicherheit und Wohlstand voraussetzt, während Religion Menschen in ärgster Not zukommt. Ein blödsinniges Weiterfragen stellt die Sinnordnung einer Religion infrage. Die Not verbietet diesen Unsinn. Denn Religionen nützen nur dann, wenn der Gläubige sich in ihrer Ordnung aufgehoben fühlt. Wenn er sich seines Platzes darin sicher ist, bekommt auch sein Leiden Sinn. Und das macht es erträglicher. Eine Person, die wiederholt die gleiche Niederlage einfährt, lebt besser damit, wenn sie die Gewissheit hat, sie arbeite ein Karma ab.

Das Tabu, eine religiöse Sinnordnung weiter zu hinterfragen, hat somit letztlich eine ökonomische Bewandtnis.

Infinite Regresse führen, ob in Wissenschaft oder Religion, immer auf etwas zurück, das keine abschliessende Erklärung zu geben in der Lage ist. Oder wir sind ausserstande, darin etwas Abschliessendes zu erkennen. Beide Richtungen finden letztlich in einer Haltung zusammen, die seit je in Mystik und Philosophie eine Rolle spielt:

Nämlich im Staunen, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, wie es wörtlich heisst (Heidegger?).

Für dieses Staunen braucht es weder die Sicht auf Endlichkeit noch Unendlichkeit.

Nötig ist vielmehr die Gnade des Augenblicks.