Bastl

Seit Jahren wird erneut vor dem Antisemitismus gewarnt. Mit Nachdruck. Der Hass auf Juden ist ein Reflex, kein Denken. Er gehört zu den Kennzeichen der spättierischen Phase menschlichen Lebens, wo Impulse immer wieder sachliche Überlegungen durchkreuzen. Sicher aber ist er eine bequeme Einstellung. Kein Grund, deshalb gleich philosemitisch zu werden. Das Judentum lässt sich in einer Weise verstehen, die beide Pole hinfällig macht.

Sicherlich befürchten manche Juden eine weitere Hasswelle. Denn die Geschichte lehrt, dieser Hass werde sie immer drastischer heimsuchen: Verbote, Pogrome, Endlösung. Wenn man 1945 als Ende der letzten Welle nimmt, ringt man nach Worten, wenn man errechnen soll, wie der nächste Schub wohl aussehen wird, sofern die Logik dieser Verstärkung zutrifft.

Wer Antisemitismus verurteilt, sollte bedenken, dass wir Menschen Andersartigkeit mit feiner Abwehr erwidern.

So will es das Leben. Das belegt die Neurobiologie. Und zwar betrifft das den besten Gutmenschen unter uns, sofern es ihn denn gibt. Andersartigkeit, ob nun rassisch bedingt oder nicht, ist also von Natur aus problematisch. Das entschuldigt nichts, erklärt jedoch Vieles. Wie bei jedem Reflex, so gilt auch hier, dass man ihn beherrscht. Man stelle sich vor, ich würde mich entschuldigend auf jede Frau stürzen, wenn ihre Pheromone meine Bereitschaft zur Fortpflanzung anreizen.

Natürliche Impulse rechtfertigen kein politisches Programm. Aber vielleicht ist das nur eine ideale Vorstellung von dem, was unter Menschen abläuft.

Die jüdische Andersartigkeit oder Besonderheit zeigt sich unter anderem daran, dass das Judentum das auserwählte Volk Gottes sein soll. Dieser Unterschied führt zu grobem Streit, zumal sich Juden selbst so erklären. Das Ansinnen wird als überheblich empfunden, als beleidigend. So wird natürlich leichterhand Hass geschürt. Auf diese Selbsterklärung könnte man jedoch gelassener eingehen. So könnte uns Nichtjuden auffallen, dass mit der Auserwähltheit eine drückende Verpflichtung einhergeht, von der wir verschont bleiben. Und auch wenn das Judentum uns sogar mit Bedauern als von Gott zweitrangig platziert sieht, kann ich entschärfend anführen, dass es sich bei dieser Selbsterklärung um Glauben, nicht aber um Wissen handelt. Denn Wissen wird immer von einer zweiten Partei bestätigt. Die gibt es hier nicht. Wie üblich in Glaubenssachen.

Und glauben dürfen alle, was sie wollen. So gewährt es die Religionsfreiheit.

Statt mich beleidigt zu fühlen, kann ich ferner darauf hinweisen, dass die Auserwähltheit im Grunde weiter nichts bedeutet als eine soziale Sicherung in Verhältnissen, die für jedes menschliche Gemeinwesen prekär sind: Auszug aus Ägypten, man hängt in der Wüste fest, die einen wollen zurück, andere gedenken, vergessenen Göttern zu opfern. Das Ganze droht auseinanderzufallen. Von Gott auserwählt zu sein, wäre demnach weiter nichts, als ein Trick zum Zusammenhalt, wie ihn alle Völker anwenden, aber sie wählen andere Möglichkeiten, andere Geschichten dafür. Zufälligerweise, ist zu ergänzen. Bei Schweizern gab es früher den Tell, heute unter anderem die Neutralität als einigendes Band.

Vor ein paar Jahren, als ich den Zug verlassen wollte, hatte eine jüdisch orthodoxe Familie, vom Flughafen kommend, die Treppe zur Tür mit ihren Koffern derart verstellt, dass kein Durchkommen mehr war. So macht man sich natürlich verhasst, dachte ich für mich, als ich eine andere Treppe suchte.

Juden überleben unter Feinden seit bald zwei Jahrtausenden. Eine beeindruckende Leistung.

Ihre Gebete handeln auch andauernd von der Vernichtung ihrer Feinde, sodass einem Bedenken kommen, wer denn nun nach all den Jahrhunderten diese Feindschaft verantwortet. Dann hätte ich den Vater jener Familie eher bewundern sollen, wie er mit Schweissperlen auf der Stirn und baumelnden Zapfenlocken die Koffer aufeinander wuchtete, obgleich er von mir und meinem Bedürfnis nach einem schlanken Ausstieg keinerlei Notiz nahm. Im Gegensatz zu mir hatte er jederzeit nicht nur mit einer jähen Anfeindung zu rechnen, sondern auch mit einer Bereitschaft, den Gegner, also das Judentum, nicht einfach nur zu stören, sondern wie Unkraut mit Stumpf und Stiel auszurotten. Wenn man Himmler und anderen Nazis der zweiten Reihe genau zuhört, zeigt sich sogar eine Achtung vor der jüdischen Überlegenheit, die es geschafft hat, trotz tödlicher Anfeindung all die Jahrhunderte zu bestehen, während die Deutschen erst seit 1870 einigermassen unter Druck geraten sind. Dieser Respekt erklärt die drastische Gleichschaltung mit, die die nationalsozialistische Herrschaft kennzeichnet.

Womöglich ist darin ein Grund zu finden, warum das Judentum so viele Künstler und Wissenschaftler hervorgebracht hat, die massgebliche Arbeit leisteten: Es braucht wache und feinsinnige Köpfe, die eine nächste Hasswelle frühzeitig erkennen. Aber gewiss gibt es auch unter Juden Kassandras oder Gandalfs, die ungeliebt sind, wo immer sie ihre warnende Stimme erheben. Die wirkliche Warnung geht aus einer Balance hervor, die so etwas wie politischen Feinsinn bedeutet. Im besten Fall. Aber die Endlösung hat erst auch niemand geglaubt. Dabei ist sie ein Schritt, der schlüssig, also graduell aus der Geschichte der Industrialisierung hervorgeht. Alle bürgerlichen Tugenden sind bei dieser so genannten Endlösung erfüllt: Fleiss, Gehorsam, bürokratische Genauigkeit, industrielle Rationalisierung. Nur das Produkt dieser Abläufe schockiert nachhaltig. Eben die Tötung von Menschen, die im Übrigen die Täter schonen soll.

Im Bedürfen, den Hass rechtzeitig zu erkennen, damit sie später keine unwürdigen Schlupflöcher zur Flucht benötigen, erkennen Juden an uns Charakterzüge, die uns wenig bewusst sind. Auch das dürfte den Hass auf diese Kultur nähren. Auch was die ständige Anpassungsleistung von Juden anbetrifft, bei der doch viel Bildung und Spürsinn erforderlich sind, dürfte diese hohe Dichte an prägenden Kulturschaffenden unter Juden kaum verwundern. Jedenfalls ist der so genannte Stressfaktor im Judentum als hoch zu veranschlagen: Auswerwähltheit mit Verpflichtung, dauernde Anpassungsleistung bei ständiger Infragestellung, ständige Wachheit, damit die Warnglocke rechtzeitig erschallt. Von solchen Druckverhältnissen haben wir kaum einen Begriff.

Wenn eine jüdische Person mich belehrt, worüber auch immer, sage ich artig Danke, dass jemand, der einer an Wissenschaft und Kunst reichen Kultur angehört, die es zudem gewohnt ist, äusserster Infragestellung ausgeliefert zu sein, in meiner Person einen möglichen Gegner schlau macht und ihn damit stärkt.

So betrachtet handelt es sich bei der jüdischen Belehrung sogar um einen Vertrauensbeweis.