Bastl

Unter Menschen herrscht eine Art Gesetz des Ausgleichs: Die eigene Sache wird derart betont, dass die gegnerische Eigenart in Misskredit gerät. Jedenfalls geschieht das offenkundig bei Kindern. Zum Beispiel vor den Ferien.

Mädchen und Buben, im Schnitt elfjährig, machen sich an der Wandtafel zu schaffen. Allerdings nacheinander, also streng geordnet. Unter so genannten Lehrpersonen gibt es immer noch Romantiker, die enttäuscht sind, wenn die Geschlechter in diesem Alter auf Abstand bleiben. Die Entwicklungspsychologie dürfte sie darüber hinreichend aufgeklärt haben, doch sie fühlen sich, wie es scheint, zur Widerlegung solcher Tatbestände berufen. Wissenschaftliche Daten scheinen sie für etwas Armseliges zu halten, das ihrer persönlichen Mission unterliegt. Doch sie scheitern. Immer wieder. Zum Beispiel vor den Ferien: Die Mädchen gestalten die Wandtafel anlässlich des Schulschlusses. Mit bunter Kreide malen sie Schmetterlinge, Blumenwiesen, Marienkäfer und Herzen. Der Wunsch, man möge eine gute Sommerzeit verbringen, prangt in reich verzierten Lettern. Zufrieden gehen die Mädchen in die Pause. Da fallen die Buben mit begeistertem Triumph über die Wandtafel her. Sie nässen die Kreiden ein und ziehen Striche kreuz und quer durcheinander. Am Ende der Spur bleibt das Kreidestück an der Tafel haften. Das einzige Wort, das sie schreiben, heisst: «Nein».

Man hört Lehrpersonen aufstöhnen. Und nicht nur die weiblichen unter ihnen. Immer diese Buben, heisst es. Bei den neuen Anforderungen, die an die Schülerschaft gestellt sind, wie Wochenplan oder Projektunterricht, geht es um mehr Selbständigkeit. Dabei stehen die Buben weiterhin im Regen, während die Mädchen in ihrer Angepasstheit bestätigt bleiben. Es ist ein Leichtes, beide Tafelgestaltungen zu vergleichen, obwohl die erste fortgewischt ist. Es kommt mir vor, als stände eine bissige Avantgarde neben einem naiven Traditionalismus. Mit diesem Nein scheint sich fast ein Naturgesetz zu verraten.

Denn je eher die Mädchen Liebliches gestalten, desto chaotischer ziehen die Buben vom Leder. Das gilt auch umgekehrt. Das Eine ruft das Andere hervor. Beides verstärkt sich wechselseitig.

Dabei dürfte es die romantischen Lehrpersonen trösten, die die Einheit der Geschlechter vor Augen schweben haben, dass Buben und Mädchen sich näherstehen als vermutet, indem sie ihr eigenes Verhalten auch nach ihrem Gegner richten.

Allerdings bei verkehrtem Vorzeichen.

Die Mädchen sind brav, also sind die Buben wild. Was sie im Ansatz schon altersgemäss sind. Also spielt der Grad bei diesem Ausgleich eine wesentliche Rolle: Die Mädchen verhalten sich besonders angepasst, also benehmen die Buben sich besonders wild. Und dies wiederum wechselseitig. Das ist schablonenhaft gedacht, es mutet überholt an, weil es vereinfacht ist.

In Familien kommt es zu solchen Ausgleichsvorgängen, unter Geschwistern etwa. Der Bruder verabscheut Rosenkohl zum Missfallen der Eltern, also schmeckt er der Schwester sogar ausgezeichnet. Ob sie das Gemüse wirklich mag, ist zweitrangig. Es ist ihr selber nicht ganz klar. Jedenfalls isst sie eifrig davon, denn die Anerkennung ihrer Eltern überwiegt die Bedeutung des Geschmackes beim Essen.

Dieser beharrliche Ausgleich entzieht sich dem Einfluss von Erziehern. Aber auch Erwachsene sind keineswegs darüber erhaben, obgleich sie solche Vorgänge nach aussen eher beschönigen oder gar verleugnen. Denn wer sich derart an den Gegner hält, verhält sich nur bedingt souverän.

Auch Erwachsene stossen sich in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander ab, indem sie ihre Eigenart betonen und so zementieren, wie die Gegnerschaft es genau in umgekehrter Weise vorgibt. Das zeigt sich typischerweise bei religiösen Bekenntnissen sowie politischen Überzeugungen. Das spielt unter Nachbarschaften genauso, wie unter Gemeinden, wo anlässlich von Sitzungen dargelegt wird, wie falsch es andere machen, auch wenn sie ihrerseits im Rahmen solcher Sitzungen vernünftig debattiert und entschieden haben. Dieser verhärtende Ausgleich wirkt zwischen Stadt und Land, unter den Generationen, zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, selbst unter Staaten und Kulturen. Wertesysteme, Weltbilder, sofern sie europäischen Ursprungs sind, stärken sich ausdrücklich am Fehlverhalten gegnerischer Konzepte.

Der Ausgleich spielt überall, es wäre töricht, ihn zu verurteilen. Immerhin gibt er den Beleg dafür, dass wir uns gegenseitig sehr genau wahrnehmen, auch wenn der Blick selten bis zu den Gründen durchdringt.

Der Ausgleich bezeugt menschliches Bewusstsein. Man muss ihn wohl der menschlichen Natur zurechnen.

Und so fort.

Aber jetzt sind erst einmal Ferien.