Ein Mann mit Gehhilfe wartet auf dem Bahnsteig. Er atmet schwer, hat einen knallroten Kopf. Seine Bedürftigkeit scheint offensichtlich. Aber das kann täuschen. Was Behinderung angeht, sind wir normal Verfasste mit einer besonderen Blindheit geschlagen. Also um kein Haar weniger bedürftig.

Sollte ich dem Mann helfen? Ich erinnere mich an mehr als eine Situation, da jemand mit Behinderung Hilfeleistungen rüde zurückwies. Nur schon das Angebot wird offensichtlich als zudringlich empfunden. Immerhin bleibe ich in sichtbarer Nähe des Passanten. Ein, zwei Leute erheben sich sogleich, als er sich in den Waggon quält. So werde ich Zeuge, wie er die Hilfen abschlägt. Zwar bleibt er höflich, jedoch ist mit Händen zu greifen, wie sehr er diese Zuwendung abwimmelt. Die Leute hören nicht auf ihn. Oder nicht sofort.

Es ist ihnen nicht klar, dass sie den Mann entmündigen.

Seine Bedürftigkeit bemisst sich an einer Norm, die unseren Blick fixiert. Wie ein Zoom, das an einer bestimmten Stelle eingerastet ist. Dadurch verkennen wir eine intime Souveränität, die eher mit einer ökonomischen Norm zu tun hat: Der Mann kennt seine persönlichen Ressourcen genau. Daran bemisst er den Aufwand, den er zu leisten hat. Erfolg und Misserfolg dieser alltäglichen Mühen hat er genau verbucht. Das heisst, er weiss genau, wann er Hilfe nötig hat. Auf die gängige Norm, die uns umtreibt und daher blind macht, nämlich wann eine Verausgabung als verträglich, wann als unzumutbar gilt, kann er keine Rücksicht nehmen.

Und wir merken, es verhält sich genau wie bei uns: Diese intime Ökonomie ist uns allen gemeinsam.

Auch wenn der angeblich Behinderte an seinem Gefährt rüttelt und dabei keucht, wenn er sich verausgabt, handelt es sich eher um eine Methode, die sich seit Jahren bewährt hat. Somit müssen wir ihn als eine Person anerkennen, die in dieser Sache Erfahrung hat und trainiert ist. Die Röte mag einer körperlichen Verfassung geschuldet sein, die uns sonst kaum als Bedürftigkeit auffällt, sondern eher als zufällige Eigenart.

Hilfsbedürftig war der Mann nicht. Die Leute hingegen, so überlegte ich, erwiesen sich als bedürftig in der Hinsicht, dass sie dringend Hilfe spenden mussten.

Demnach waren sie helfsbedürftig.

Die Freude, etwas Gutes zu tun, ist womöglich kaum über sonstige Begierden erhaben, die zu einer milchsämigen Rundumzufriedenheit führen. Ich denke, wir sollten uns damit abfinden, dass es uns genauso nach moralischer Befriedigung verlangt.

Vielleicht verrät der Grad, wie ausgeprägt dieses Bedürfnis besteht, nur die Last an Schuld, die jemand ausgleichen möchte. Besonders dann, wenn er Gelegenheiten zur Wiedergutmachung dieser Schuld verwirkt hat. Dieses Bedürfnis hat sich nie verändert. Früher flehten sie gen Himmel um eine Seele so reingewaschen und blütenweiss wie Schnee. Nur fehlt uns heute dafür ein überirdischer Adressat.

Diese erbärmliche Not wiederum erklärt die selbstbezogene Ignoranz der Hilfesteller gegenüber der intimen Souveränität des eigentlich so völlig offensichtlich Nicht-Behinderten.

Blindheit überall.

Also Bedürftigkeit überall.