Scheue Kinder fremden, heisst es hierzulande. Aber auch gewisse Erwachsene verhalten sich so. Man weiss ja nichts voneinander. Das macht vorsichtig. Diese gängige Überzeugung, warum wir uns so benehmen, ist womöglich verfehlt. Erwachsene fremden, so vermute ich, weil sie eher zu viel voneinander wissen.

Alle diese Formen der Abwehr unter Erwachsenen, angefangen vom Rassismus über Chauvinismus bis hin zu persönlicher Distanzierung von Fremden aus vielerlei Gründen, alle diese Vorbehalte wird man vielleicht irgendwann der spättierischen Phase des Menschenlebens zurechnen. Womöglich geben sie sogar die nötigen Kennzeichen für diese Einteilung ab. Aber bis dahin mag ich nicht warten.

Wie kann mir etwas fremd sein, das menschlich ist, so Nietzsche. Fremdheit überhaupt drückt unsere spättierische Zurückhaltung aus. Mir scheint, dass alles, was wir voneinander wissen, ohne uns zu kennen, diese Hemmung überwinden kann. Angenommen also, ich bekäme es mit einer unbekannten Person zu tun, was könnte ich von ihr sagen? Fest steht, es müssen allgemeine Belange sein. Denn gerade die Eigenart, auf die wir so viel Wert legen, bleibt vorderhand unbekannt. Zum Beispiel könnte ich Folgendes zu dieser Person sagen:

Ich weiss von dir, dass es Menschen gab oder gibt, die sich um dich sorgen. Menschen kommen als Frühgeburten zur Welt, und sie durchlaufen eine Kindheit, die überdurchschnittlich lange dauert. Es heisst, je mehr eine Lebensform von ihrer Umwelt einbezieht, je ausgeprägter somit ihre Intelligenz ist, desto eher sei sie auf Pflege durch andere angewiesen. Du bist jemand, um den sich andere sorgen. Das verändert meinen Blick auf dich. Zwar sind in dieser Sache Probleme anzunehmen, von denen ich nichts weiss. Aber ich kann damit rechnen.

Weiter hast du dich vom Leben aus Zuständen vertrieben gefühlt, die du als glückselig erfahren hast. Immer wieder trachtest du danach, gute Gefühle zu haben, damit du ein ozeanisches Weltgefühl erlangst, das wir alle oft vermissen.

Zu bemerken, dass du von anderen körperlich wie mental abgetrennt bist, bereitet dir immer wieder Schwierigkeiten. Du bist genauso von anderen Menschen abgetrennt wie von bestimmten Bereichen des Lebens. Diese Abtrennung lässt niemanden gleichgültig. Es sind Risse menschlichen Lebens: Abgetrennt vom Mutterleib, abgeschnitten vom Mutterkuchen, entwöhnt von der Brust. Du erfährst dich als minderwertig, sogar als zerstückelt. Dein Spiegelbild zeigt dir jedoch deine vollständige Ganzheit, körperlich wie mental. Und voll glucksender Freude deutest du auf dich selbst und zeigst dich der Mutter oder dem Vater, die dich in den Spiegel halten.

Und so wirst du zeitlebens danach trachten, ein ideales Ich in einer idealen Welt zu verwirklichen. Körperlich, mental, religiös, sexuell. Deshalb hast du auch mit deinem Geschlecht zu tun, wie auch immer du darin beheimatet bist.

Wie ich und andere bist du also bestrebt, mit Welt und Menschen eins zu werden. Insgesamt begehrst du ein rundes, wohliges Weltgefühl. Und du trägst Wunden davon, wo immer diese Einheit misslingt. Eine Rückkehr in die Mutter bleibt verwehrt. Also suchst du die ozeanische Seligkeit, diese Einheit schlechthin, sozusagen in einer Flucht nach vorn wiederzuerlangen, indem du so gut als möglich Anerkennung erntest. Das liegt wohl kaum daran, dass du einen nervösen Charakter hättest. Nein, du würdest von Natur aus verkümmern, solltest du nur auf Missachtung stossen.

Folglich bist du aus natürlicher Selbstsorge darauf bedacht, dass man dich wahrnimmt.

Das sind alles psychoanalytische Tatbestände, die wir lieber vor uns verbergen, auch wenn sie so selbstverständlich zum Leben gehören wie Stoffwechsel oder Fortpflanzung. Weiter kann ich von dir sagen, ohne dass ich deine nähere Bekanntschaft gemacht hätte, dass du von einer bestimmten Kultur geprägt bist, was immer damit gemeint wird. Und zwar derart, dass du selber nur ungenau unterscheidest, welches Benehmen dir anerzogen ist oder was dich persönlich ausmacht. Entweder bemühst du dich, dass du Anschluss an diese Kultur behältst, oder du hast dich von ihr abgewendet und vielleicht bereits festgestellt, wie viel von ihr um so stärker dir anhaftet.

Jedenfalls gehörst du einer Kultur an, die die Arbeit teilt, die Eheschliessungen kennt, da keine Kultur das Sexuelle ohne Regeln belässt. Sie schätzt Gastfreundschaft hoch, kennt das Handwerk der Geburtshilfe, bewahrt sich eine gewisse Folklore. Es gibt Speisegesetze, die du befolgst oder ablehnst. Das Lächeln eines Säuglings bewirkt Zuwendung und keinen Ekel. Verstorbene werden nach bestimmten Regeln bestattet. Geschenke spielen eine wichtige Rolle. Und so fort.

Zuletzt: Ich nehme an, dass du manchmal auf dem Bettrand sitzt und dir Gedanken über dein Sterben machst.

Und darüber, auf welches Leben du dann zurückschauen wirst.