Viele Europäer haben sich von der indischen Kultur beeinflussen lassen. Nicht nur Herrmann Hesse. Seine Morgenlandfahrer sind auch im gewöhnlichen Volk inzwischen weit verbreitet. Die meisten nutzen indisches Gedankengut als Gegenentwurf zur westlichen Leistungsgesellschaft. Das passt. Auf den ersten Blick zumindest.
Immerhin waren es Inder selbst, die als Abendlandfahrer nach Westen zogen, damit unsere Gesellschaft nicht überkocht. So zum Beispiel Maharishi Mahesh Yogi. Viele Europäer nutzen das Indische, um ein Gewese um ihre persönliche Identität zu veranstalten, indem sie sich selbst einen Namen in Sanskrit zulegen und entsprechende Kleider anziehen, betreiben Yoga, ernähren sich nach den Lehren der Veden. Natürlich haben sie klare Gründe dafür.
So aber bleiben handfeste Vorzüge des Indischen unerkannt.
An den vielen Gurus fällt auf, dass sie sich nicht zusammentun, etwa zu einer politischen Partei. Stattdessen ist jeder alleine unterwegs. Vielleicht gerieten sie sich dann laufend in die Haare, und das wäre ihrem Ansehen abträglich. Ausserdem wirbt keiner für demokratische Gesinnung. Eher verbreiten sie um sich die Atmosphäre eines kruden Hofstaats.
Dennoch fällt auf, dass sie einander nicht anschwärzen.
Denn die Wege zum Ganzen sind vielfältig. Das gehört notwendig zur indischen Überzeugung. Also besteht kein Anlass, die Lehren eines bestimmten Gurus niederzumachen, damit die eigenen umso heller erstrahlen. In dieser Sache können Europäer von Indien lernen. Unter uns war es schon immer üblich, das eigene Beispiel an den Fehlern des Gegners zu schärfen. Jesuiten machen Protestanten nieder, während sie auch ihnen als abschreckendes Beispiel dienen. Jede Richtung bildet Extremismen aus, und auch diese bekämpfen sich wechselseitig. Gläubige weiden sich an den Schwächen weltlicher Lebensführung. Wissenschaftler ziehen über Esoteriker her, diese stossen sich an ihrem Materialismus ab in lichthellste Höhen. Sozialisten wettern gegen Kapitalisten. Etwas weicher gespült Sozialdemokraten gegen Liberalisten. Auch unter Nationen spielt der gleiche Unfriede. Der elende Franzose, der blasierte Deutsche. Das Elsass kennt in dieser Sache völlig zerrissene Familien. Und noch mein Schweizer Grossvater drohte mit Enterbung, als sein Ältester um die Hand einer Pfälzerin anhielt.
Indien kennt diesen Unfrieden nicht. In seine Geschichte sind denn auch keine Kriege eingeschrieben, die ganze Völker niedergewalzt hätten. Auch keine Horden fremder Kulturen, die herandbranden und vorsorglich alles niedermachen, was sich ihnen entgegenstellen könnte. Nicht so Europa. Es vergleicht sich mit der Verfassung einer Person, die mehrfach brutalst geschändet wurde. Was erwartest du von ihr? Eine Offenheit zum Ganzen, wie es Indien lebt? Dass sie sich zur Welt hin durchlässig fühlt? Wohl kaum.
Vergleicht man die Geschichte Europas mit einem Boden voller Ablagerungen, zeigten sich darin immer wieder Schichten von Blut und Asche. Das ist mitunter ein Grund dafür, dass der Westen in erster Linie auf Versorgung setzt.
Allgemein auf Sicherheit.
Wer dem Westen die indische Lebensart vor Augen hält, macht sich nicht nur verdächtig, auf Rache aus zu sein. Es zeigt sich auch, dass er seine Geschichte nicht kennt. Genauso verfehlt wäre es, wenn man von Indien bessere Versorgungsleistung erwartete.
Denn selbst Krüppel, die auf Strassen leben, fühlen sich zum Ganzen gehörig.
Dennoch gibt es für uns etwas von Indien zu lernen. Die Ethnologieprofessorin Shalini Randeria sprach in einem Interview im Magazin des Tages Anzeigers eine Art Losung oder Formel aus, die in Europa manchen Streit beilegen würde, wie alt und ehrwürdig er auch sein mag. Diese Formel lautet:
In Indien ist immer auch das Gegenteil wahr.
Eine Bombe von Dialektik. Der ganze Hegel ist auf einen Schlag erledigt. Denn das Gegenteil ist nicht nur in Indien wahr. All die Indienbetuchten unter uns müssen sich damit abfinden, dass auch die Hochleistungsversorgung westlicher Kultur, die sie ablehnen, ihre Wahrheit hat.
Sprich ihre Aufgabe im Weltganzen.
Das Geschick, diese Losung zu beherzigen, setzt tatsächlich voraus, dass man das Ganze denkt und sieht. Bei allem, was geschieht.
Aber wie macht man das? Gerade als Europäer.
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