Zurzeit teilen viele die Befürchtung, unsere Freiheit werde über das Notrecht hinaus beschränkt bleiben. Eine Gleichschaltung steht für uns ausser Frage. Zwar sind wir in manchen Dingen längst gleichgeschaltet, ohne dass es weiter auffällt. Vielleicht sind wir einfach nur verwöhnt, was persönliche Freiheit angeht. Wenn man die gesamte Geschichte überblickt, ist jedenfalls wenig davon zu sehen.

Im äussersten Fall einer Gleichschaltung wird das Modell der Armee auf die Gesellschaft übertragen. Befehl, Druckmittel, Ausführung. Das setzt steile Hierarchien voraus. Da kommen auch Reizmittel zur Anwendung, wenn etwa eine Beförderung in Aussicht gestellt wird. Stalinismus und Nationalsozialismus sind beispielhaft dafür. Auch die gegenwärtige Wirtschaft befolgt militärische Grundsätze, wenn auch viel harmloser. Abkürzungen in der Schreibweise etwa gab es früher nur in Kasernen. Heute wimmelt es in der gesamten Öffentlichkeit davon. Einst besuchte ich die Oberstufe am Thomas-Bornhauser Schulhaus. Heute heisst es TBO. Bestimmte Firmen mit ihren Offizieren und Taktiken und Strategien hissen Fahnen vor ihren Niederlassungen. Wie römische Truppen in besiegten Gebieten, den so genannten Provinzen. Auch Normierungen bedeuten eine Form der Gleichschaltung, die wir kaum problematisch finden. Die Liberalisierung hat massenhaft Normierungen durchgesetzt.

Diese Beispiele zeigen, dass wir weniger den Zwang zu befürchten haben, als vielmehr die Gleichschaltung auf Empfehlung. Oder sogar eine freiwillige Gleichschaltung, die es gleichwohl gibt. Tatsächlich trifft es zu, dass Menschen, die keinem Zwang unterliegen, sich von selbst einander anpassen.

Sie schalten sich von alleine gleich.

Also müssen wir in Rechnung stellen, dass Gleichschaltung etwas Natürliches an sich hat. Herdentrieb und Schwarmverhalten sind Beispiele natürlicher Gleichschaltung, die ohne zentrale Befehlsgewalt gelingen. Man darf auch nicht vergessen, dass demokratische Mehrheitsbeschlüsse genauso zu einer Gleichschaltung führen. Auch erfreuen wir uns der Gleichschaltung als einer Choreografie, die das Vertrauen in das Funktionieren von Massenbewegungen stärkt, sei das anlässlich nationaler Turnfeste.

Oder in Nürnberg um 1935.

Zwänge sind streng genommen genauso natürlich, auch wenn sie uns gegen den Strich laufen. Der Adler lässt sein Junges im Flug fallen und fängt es wieder auf, wenn es sich sträubt zu fliegen. Arbeiterinnen schütteln schläfrige Bienen, sobald der Schwarm zum Weiterzug bereit ist. Was die Corona-Krise anbetrifft, so geht es um Angelegenheiten, die handfester sind: Aus der Vernunft der Krisenvorsorge könnte es zu Zwangsimpfungen und Chipsimplantaten kommen. Die Sorge um diese Gleichschaltung greift noch weiter, indem sie einen Staat ins Auge nimmt, der die missliche Lage zu weiteren Vorteilen nutzen wird. So thematisieren viele in sozialen Netzwerken im Gleichzug die Monopolisierung von Wasser und Saatgut thematisiert. Denn sie könnte uns erpressbar machen, sodass die Gleichschaltung freies Spiel hätte. Damit Druckmittel wirken, muss man die Leute erst in die Lage bringen. Kürzlich ging eine Person leer aus, als sie Setzlinge kaufen wollte. Und schon setzte sie im Netz Warnungen ab.

Die Sorge ist berechtigt. Tatsächlich gibt es immer wieder Diktaturen, die über die Not hinaus, aus der sie anfänglich entstanden, ihre Stellung behaupten. Die arabischen Potentaten Ben Ali oder Mubarak liessen Notrecht über mehrere Jahrzehnte in Kraft. Damit befolgten sie Hitlers Vorgehen, auch wenn der es bloss auf schäbige zwölf Jahre gebracht hat. Er wurde eben viel früher bekämpft als sie. Und seine Vernichtung hat uns eine Wirtschaftsblüte beschert, die es überhaupt möglich machte, dass wir Freiheit bis zur Verwöhnung genossen.

Diese Blüte ist verwelkt. Und auch das Gerede von Demokratiemüdigkeit gibt dieser Sorge Nahrung.

Ein Blick in das Wissen des alten Indien mag nervöse Gemüter etwas besänftigen, auch wenn das nachhaltig wohl missglücken wird: Die Vorfahren der heutigen Inder waren einst vom Hindukusch her in den Subkontinent eingewandert. Zunächst gründeten sie nur Siedlungen, die sehr oft umzogen, da es Gegenwehr von ansässigen Völkern gab. Aufbruch und Weiterzug werden mit einem Wort benannt, das alle kennen, nämlich mit «Yoga». Der Ausdruck bedeutet «Anschirrung». Körper und Geist bilden ein harmonisches Gespann, das dem Ich als Wagenlenker zu Diensten ist. Anschirrung bedeutet jedoch Unterwerfung unter ein Joch, das wortgeschichtlich wohl auf «Yoga» zurückgeht. Wenn ein Volk aufbricht und weiterzieht, ist es zwingend, dass sich alle einem einzigen Befehl unterordnen. Es kann nicht sein, dass man alle paar Meter stoppt und Debatten über das weitere Vorgehen führt und dabei sogar einmal gefasste Grundsätze abermals in Zweifel zieht. Die Veden zeigen jedoch, dass das Yoga als zentralisierende Kraft nur in diesem Falle gilt. Hat man eine neue Bleibe gefunden, föderalisiert sich das Gemeinwesen wieder in natürliche Einheiten.

Föderalisierung gilt als Gegenteil von Zentralisierung. Das trifft die Sache nur unscharf. Denn jedes Gemeinwesen ist zentralisiert, früher sogar die Familie. Der Unterschied zeigt sich darin, ob man die zentralisierende Instanz aus der Nähe kennt, oder ob sie namenlos aus der Ferne die Hebel betätigt.

Zentralisierung und Föderalisierung bilden zusammen einen Atem, der die gesamte Geschichte durchzieht. Sie scheinen sich gegenseitig hervorzurufen.

Diese Einsicht ist für uns Freiheitsverwöhnte schwer zu schlucken.