Wie in jeder Krise sind auch derzeit Verschwörungstheorien im Umlauf, politische wie esoterische. Erste Vorhersagen schlugen bereits fehl. Wie damit umgehen?

Man muss sich klar machen, wie wir überhaupt zu Gewissheit kommen, ob wir nun Esoteriker sind oder Wissenschaftler oder sonstige Alltagsmenschen. Somit verschaffen wir uns Gewissheit darüber, wie Gewissheit entsteht. Eigentlich ein vergebliches Unterfangen.

Auf die Frage, wie sie zu ihren Kenntnissen kämen, oder wie diese zu ihnen gelangten, meint ein Esoteriker, es fänden verschiedene Informationen aus unterschiedlichen Quellen zusammen. So fügten sie sich irgendwann zu einem Puzzle. Das klingt einsichtig. Eines kommt zum Andern. Nur so sind wir Menschen in der Lage, Zusammenhänge zu deuten. Aber der Vergleich mit dem Puzzle kommt nur hälftig zum Einsatz, wenn man ihn beim Wort nimmt.

Denn es gibt kein Puzzle ohne Vorlage.

Wenn Esoteriker oder Wissenschaftler die Krise wie ein Puzzle behandeln, so tun sie das ohne Vorlage. Soll es ein Puzzle sein, wie es der Vergleich vorgibt, dann muss eine Vorlage im Spiel sein. Bleibt einzig die Möglichkeit, dass sie die Vorlage schon immer in ihrer Tasche mit sich geführt haben.

Nämlich die Vorannahmen oder Vorurteile, die wir alle mitbringen. Das ist klassische Hermeneutik.

Wenn jemand betont, er habe Gewissheit wie ein sauber gefügtes Puzzle erlangt, dann kann er nicht wissen, ob die Informationen, die ihn erreichen, irgendwann bloss seine Vorannahmen erfüllen. Die Vorannahme zum Beispiel, dass jede Presse eine Lügenpresse ist. Dass es Schattenkabinette geben muss. Dass die USA die Bösen sind. Dass freier Markt auf Korruption hinausläuft. Dass jeder Staat ein Unrechtsstaat ist. Vielleicht gilt die Formel: Je einfacher die Vorannahmen, desto rascher kommt das Puzzle zustande. Deswegen wurden bereits nach wenigen Wochen der Krise pfannenfertige Theorien in Umlauf gebracht, politische wie esoterische. Dabei weiss man nie, ob das Bild des Puzzles nun den wirklichen Verhältnissen entspricht, oder ob vielleicht Puzzleteile fehlen, die für die Bildaussage einschlägig wären. Die Vorannahme wirkt dann wie ein Muster oder wie eine Folie, die Lücken im noch unfertigen Puzzle überdeckt.

Niemand weiss je, ob er über sämtliche Informationen verfügt, die für ein abschliessendes Urteil über einen bestimmten Sachverhalt unentbehrlich sind. Auch Wissenschaftler müssen ihre Studien begrenzen oder irgendwann aufhören, Belege für eine These zu sammeln, schliesslich sollen sie ein Resultat veröffentlichen, das die Gelder rechtfertigt, die man in die Forschung steckt.

Angenommen, ich vertrete die Meinung, China sei das Böse an sich. Eine durchaus verbreitete Ansicht. Sollte seine staatskapitalistische Wirtschaft erblühen, während Corona die westlichen Nationen zunehmend in die Knie zwingt, wäre das Puzzle zu meiner Verschwörungstheorie fertiggestellt: China selbst hat das Virus freigesetzt. Wie das? Es gefährdet sich doch nicht selbst, so die zwangsläufige Argumentation. Zum Einen jedoch wäre der Verdacht seiner Urheberschaft dadurch bestens abgewendet. Zum Andern dürfte die Annahme zielführend gewesen sein, dass man dank bestehender Diktatur die Ausbreitung im eigenen Land rasch und höchst wirksam bekämpfen würde, während das Virus die offenen und freiheitsliebenden Demokratien Europas und Amerikas ungehemmt verseucht. Diese Theorie erklärte auch, warum der Arzt in Wuhan gemassregelt wurde: Seine Warnung kam für die erwünschte Ausbreitung eben zu früh.

Nie im Leben würde ich diese Theorie vertreten. Sie geht zu schön auf. Und eben, ich weiss nicht, ob einschlägiges Wissen dazu noch fehlt.

Ich nehme es grundsätzlich an.

Dass es fehlt.