Ein Jammerbild: Berlin Mitte, im Regen und bei Nacht. Eine Gruppe Schüler quält sich vor mir her. Der Hinterste hält Anschluss, indem er den Kollegen, die vor ihm gehen, bei jedem Schritt förmlich aufsitzt. Dabei hält er den Unterkörper mit Bedacht zurück, während er auf Höhe Brust wie angepappt erscheint. Man gewinnt den Eindruck, er wolle auf die Gruppe hochsteigen. Seine Versuche misslingen jedoch andauernd, so Angst hat er, den Anschluss zu verlieren.
Eine harte Variante vom Mann der Menge, den E. A. Poe ersonnen oder gar beobachtet hat. Der Feuchtigkeit wegen zieht die Gruppe zügig voran, sodass der Junge einen abrupten Stopp ausschliessen kann. Die ganze Zeit, in der ich ihnen folge, ist er mit der dringenden, aber heiklen Nähe zu seinen Kameraden beschäftigt. Ein Stocken, ein Gewackel, hin und her, vor und zurück. Auch sein Rang innerhalb der Gruppe wird offensichtlich. Im dümmsten Fall wird er geduldet, von einer Liste zugeteilt, nicht infolge natürlicher Wahl.
Eine Entfremdung schlechthin: Der Junge sucht notgedrungen die Nähe zu Leuten, die ihn ablehnen. Im besseren Fall ist er ihnen gleichgültig.
Ein amüsanter Anblick. Ein erbärmlicher Anblick? Nein, eine solche Abwertung hat der Junge nicht verdient. Gerade weil er sich so abmüht. Und dabei Erfolg hat. Sekündlich hält er Anschluss. Evolutionär betrachtet gelingt seine Methode. Auch wenn er dabei die Beine unnatürlich breit halten muss, als sicherte er ein Kleinkind dazwischen, das Laufen lernt.
Im Übrigen besteht kein Anlass, den Jungen bloss amüsant zu finden, da sich die meisten Probleme unter Menschen seit je darum drehen, wie es gelingt, dass wir zusammenbleiben. Egal, ob als Schulklasse, Ehe, Familie, Sippschaft, Nationalstaat oder Religion. Das schlägt bis auf abstrakteste Ebenen durch: Anschlussfähigkeit ist ein wesentlicher Blickpunkt der Systemtheorie. Und diese legt sich wie eine Folie auf alles, was lebt. Nicht nur auf uns Menschen.
Wie bleiben wir zusammen? Dafür gibt es Beispiele zuhauf. Die Juden in der Wüste zwischen Ägypten und Palästina beschworen sich als von Gott auserwähltes Volk, sodass diejenigen unter Druck gerieten, die sich dafür einsetzten, dass man aufgibt oder nach Ägypten zurückkehrt. So erkläre ich mir das. Im Eherecht war bis Ende der 70er-Jahre ein Schuldspruch vorgesehen. Wer die Bindung vorzeitig löste, lud Schuld auf sich. Nach Tilgung des Schuldspruches aus dem Eherecht wogten erste Scheidungswellen durch die Völker.
Wie bleiben wir zusammen? In der Angst vor Ausschluss werden wir besonders empfänglich für Schuld und Schuldvermeidung.
Moral und Schuld gehören zur Klebrigkeit gemeinsamen Lebens.
Diese Klebrigkeit zeigt sich nun beispielhaft in diesem Gehampel und Gehüpfe vor mir, das kein Ende nimmt, solange die Gruppe durch Berliner Nächte zuckelt.
Und das bei Regen.
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