Egoismus ist etwas Schlechtes. Darüber besteht Einigkeit. Dabei wäre zu bedenken, dass uns das Leben eine gewisse Selbstsorge auferlegt. Die erträgliche Leichtigkeit, mit der Egoismus im Rundumschlag gebrandmarkt wird, ist daher ihrerseits zu verurteilen, finde ich.
Vor Jahren schlenderte ich in einer Einkaufspassage herum, wartend auf den Bus zur Arbeit, als ein älterer Herr ganz langsam in Ohnmacht sank. Der Mann sass auf einer Bank ohne Rückenlehne, er sackte seitlich weg, während seine Frau um Hilfe rief. Ich kauerte mich hinter den Mann und stützte ihn ab. Vielleicht hätte man ihn hinlegen sollen, damit das Gehirn genügend Blut abbekäme, doch die Ursache seiner Schwäche war ja keineswegs klar. Die Frau redete verzweifelt auf ihn ein, er blickte benommen und ohne Ausdruck, vielleicht sogar verlegen darüber, dass er einen schlimmen Ausnahmezustand verschuldete.
So erstarrten wir in dieser Situation: Die Frau redete auf ihren Mann ein, während ich ihn stützte. Indessen rückte der Zeitpunkt näher, da mein Bus fahren würde. Irgendwann meldete ich mein Anliegen höflich an, die Frau jedoch nahm keinerlei Notiz von mir.
Das Urteil, sie verhalte sich selbstbezogen, wäre genauso passend gewesen, wie sie die Sache offensichtlich verfehlt. Das fand ich interessant, obgleich das Gewicht des Mannes mich zunehmend belastete. Auch die herannahende Abfahrt setzte mich allmählich unter Druck. Auch ein zweiter Versuch, die Dame für mein Anliegen zu gewinnen, schlug fehl. Ich verstand ja, welche Tragweite dieser Vorfall für sie hatte. Und schon da hörte ich sie sich händeringend entschuldigen, nachdem die Not ausgestanden sein würde. Soweit sollte es aber nicht kommen. Umgekehrt jedoch wäre ich ihr genauso selbstbezogen vorgekommen, hätte sie mich überhaupt bemerkt. Das bisschen Arbeit, das ich versäumte, wog den Schicksalsschlag mitnichten auf, den zu befürchten sie handfesten Grund hatte.
Aus der nahegelegenen Drogerie bahnte sich Hilfe an, zunächst für den Alten, schliesslich auch für mich, als ich der Angestellten ein Zeichen gab.
Diese Situation ist als Notfall derart klar, dass die Selbstbezogenheit der Frau keinen Anstoss erregt. Statt Egoismus empfiehlt sich hier die Annahme einer Sorge um die Nächsten und somit um die eigene Person .
Schwieriger zu beurteilen sind Vorfälle, die im Vergleich dazu harmlos sind, wie alltägliche Verstrickungen unter Menschen. Was liegt dann vor, Egoismus oder Selbstsorge? Der Fall liegt dort keineswegs so klar wie beim betagten Ehepaar in seiner Not. Man muss die Sachlage ausdeuten, und dazu sind zahlreiche Angaben notwendig, bei denen man nie weiss, ob man über alle verfügt, die nötig sind, um ein Urteil zu fällen, das der Situation auch gerecht wird.
Man könnte nun einwenden, jeder Egoismus sei eine Sorge um sich selbst. Dem stimme ich gerne zu, aus dem Grund, da diese Sichtweise den Blick auf Egoisten auffrischt.
Der Unterschied mag in der Höhe der Unkosten liegen, die anderen dadurch erwachsen, dass jemand egoistisch für sich selbst sorgt. Aber da sind die Verträglichkeiten verschieden.
Vielleicht hat ein Egoist in dieser Frage, wie sehr er Mitmenschen beeinträchtigt, selten eine wirkliche Wahl.
Oder wir wissen nicht, ob er sie hat. Wir unterstellen sie ihm einfach.
Kommentar verfassen