Mobbingfälle an Schulen gelangen zur Aufarbeitung, indem man mit den Beteiligten einzeln Gespräche führt. Diese Methode steht in der Tradition von Gesprächstherapie, Gewissensprüfung und Beichte. Das klingt altmodisch. Gerade bei Mobbing empfiehlt sich nämlich ein Blickpunkt, der so weit reicht, dass er die Gesellschaft miteinbezieht. Dadurch erübrigt es sich wohltuend, dass man in den Persönlichkeiten dieser jungen Menschen herumstochert. Ihre Absichten, ihre schwierigen Charaktere geraten sogar völlig aus dem Brennpunkt.
Auf Fragen, warum sie gemobbt und was sie sich dabei gedacht hätten, wissen die Kinder meistens keine Antwort. Sie zucken mit den Schultern, blicken auf ihre Hände. Das Gespräch mag noch so wohlwollend verlaufen, irgendwann fügen sie sich in eine Erklärung, die ihr Befrager aus vielerlei Dingen herleitet. Am Schluss wird eine Vereinbarung getroffen, die keine ist.
Die Ahnungslosigkeit der Kinder in dieser Sache halte ich für wegweisend. Man tritt aus dem Büro, in dem das Kind geduckt sitzt, verlässt das Schulgebäude, macht ein paar Schritte auf die nächste Anhöhe, blickt zurück und fängt an, über die Schule als solche nachzudenken. Mancher Druck lastet darauf, von Eltern, von den Ämtern, von der Sekundarstufe. Diese unterliegt dem Druck der Gymnasien. So geht es weiter, wie die Kindergeschichte von Joggeli es beispielhaft verdeutlicht, der Birnen vom Baum schütteln soll. Alles dreht sich an der so genannten Sek um die entsprechende Aufnahmeprüfung, während die Gymnasien ihrerseits darum besorgt sind, welchen Platz sie im Ranking der Hochschulen belegen, das regelmässig wiederkehrt. Politik und Wirtschaft halten wiederum die Hochschulen auf Trab und so fort. Der Druck wird von oben nach unten verlagert, um es bildhaft zu verdeutlichen. Solche Druckverhältnisse bestehen insgesamt in unserer Gesellschaft, manchmal offen und klar wie in der Armee, öfter aber hinter Nettigkeit verborgen. Überall, wo eine übergeordnete Stufe Einladungen verschickt oder Empfehlungen an die Organe abgibt, die ihr zuarbeiten, wird man dort hellhörig bis nervös.
Man hört es landauf, landab: Der Druck hat zugenommen. Ängste rühren sich auf hohem Niveau, aufgeschreckt von 9/11, dem Klimawandel, der Wirtschaftskrise 2008 sowie ultraliberaler Umgestaltung der Arbeitswelt. Für meine Überlegungen jedoch reicht es, dass Druck herrscht, der weitergereicht wird. Denn das war schon immer in gewissem Masse der Fall.
Der Druck, der gleichsam nach unten verlagert wird, endet nicht etwa bei den Lehrkräften. Natürlich wird er an die Kinder weitergereicht. Ich bekenne die Neigung, die Schülerschaft nötigenfalls mit Prüfungen einzudecken und mit zusätzlichen Hausaufgaben, damit Disziplin erzwungen wird. Vor allem ist vonseiten der Eltern keine Störung zu befürchten. Anspruchsvolle Schüler überfordert man gezielt, damit sie stillhalten. So einfach ist das. Diese geistreiche Massnahme habe ich mindestens einmal angewendet. Sie findet sich in dem Bild verdeutlicht, wenn man Dächer und Simse mit Stacheln zur Abwehr von Tauben bestückt.
Und die Kinder? Bei ihnen wird nun eine anthropologische Konstante deutlich, die Menschen jeden Alters angeht. Folgende Bedingungen sind dabei ausschlaggebend: Sie sind nicht in der Lage, den Druck weiterzugeben. Sie sind zu Klassen zusammengepfercht. Und: Sie haben Leistungen zu erbringen, die sachlicher, aber auch sozialer und moralischer Art sind. Da wird der Druck wie ein Schwarzer Peter untereinander herumgereicht.
Schlimmer noch: In so einer Lage fangen Menschen an, sich gegenseitig zu erniedrigen.
Wer den Kürzeren zieht, dürfte sich von selbst erklären. Die meisten Kinder passen sich an, gegebenenfalls unter Anstrengung, sie bemühen sich, um Kritik zuvorzukommen, verzichten auf Auslauf und Abenteuer. Auf einmal kommt da jemand, der sich anders benimmt, der die Unverschämtheit besitzt, anders zu sein, also unangepasst und von Herzen zufrieden. Einer mit roten Haaren, eine Muslima, einer mit Sprachfehler, der gleichwohl ein loses Mundwerk pflegt, oder einfach ein Mädchen, das die Leistungen erbringt und trotzdem verträumt und lebensfroh seinen Weg geht.
Und das beruht schlicht auf Zufall. Mobbing-Opfer, die das Haus nicht mehr verlassen, sollten sich bewusst sein, dass sie sehr wohl zufällig in diese Lage geraten sind, statt sie zutiefst persönlich zu nehmen. Anderssein ist schliesslich die Regel und nicht die Ausnahme.
Dasselbe gilt für Mobber gleichermassen.
Für Lehrkräfte wie für Sozialarbeiter wiederum gilt: Die Situation von Mobbing ist so gesehen nirgends persönlich, sondern durchwegs allgemein. Danach hat sich ihr Vorgehen zu richten. Zur Entlastung aller.
Der Vorgang Mobbing ist gesellschaftlich bestimmt.
Sprich anthropologisch.
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