Lange Zeit sträubte ich mich, Verdi zu hören. Überhaupt stand ich lange unter dem Einfluss früherer Erzieher, die alles Spätromantische als edelfaul abtaten. Aber ich sah auch keinen Grund, warum ich mir solche Geschichten antun sollte, die alles Höchstdramatische zugleich inbegriffen hatten: Rache, Kindsmord, Bruderzwist, Hexenverbrennung, Verrat, Leidenschaft. Und immer wieder taucht das Zigeunerwesen auf und vollführt seine magischen Praktiken.
Bemüht, mit bürgerlicher Bildung mitzuhalten, studiere ich noch vor der Aufführung etwa eines «Trovatore» die Handlung und verfange mich entnervt in einem Geflecht von Figuren und Geschehnissen, wobei ich nur mit Mühe Hauptschauplätze von Nebenhandlungen unterscheide. Irgendwie ahne ich, dass alles gleich wichtig ist. Eben dramatisch.
Und noch während der Aufführung sehe ich ein, dass der Überblick der Handlung sogar unnötig ist.
Dass eine Mutter irrtümlich ihr eigenes Kind ins Feuer wirft, statt ein fremdes, um Rache zu üben, ist schwer zu billigen. Zwar ist ein solcher Irrtum möglich, aber völlig unwahrscheinlich. Das widerspricht im Übrigen der Poetik des Aristoteles, falls man sich daran stört. Abgesehen davon taugen besondere Vorkommnisse im Leben auch nach unserem Geschmack selten zu einer guten Geschichte, wenn sie verschiedene Menschen ansprechen soll.
Daran ändert nichts, dass die Frau von einer Vision geblendet war, die in der Geschichte sonst keine andere Aufgabe erfüllt, als eben diesen Fehler zu rechtfertigen. Sie ist günstiges Beiwerk. Zum Vergleich: Das Duell zwischen Hamlet und Laertes ist kein Beiwerk, sondern ergibt sich organisch aus allen Handlungssträngen, führt sie im Sinne eines Finales zusammen, während bei Goethe Gretchens Bruder auf einmal auftaucht, um dann sogleich den Degen gegen Faust zu führen. Er tritt auf und stirbt sogleich. Von einem organischen Zusammenhang keine Spur. Sein Vorbild Shakespeare hat Goethe verfehlt, ähnlich Vergil, der im Gegensatz zu einem organischen Homer ein Werk in Auftrag bekam, das von Beiwerken nur so wimmelt.
Ist nun Verdi auch ein solcher Epigone? Nein, denn die Geschichte ist zweitrangig. Der Ablauf der Fabel ist sogar aus anderen Gründen entbehrlich. Verdi selbst gibt uns den Schlüssel, wenn er sich in einem Brief nach dem spanischen Drama rund um den Trubadour erkundigt, denn es enthalte «starke Momente» oder ähnlich. Ehebruch, Totschlag, Kindsentführung.
Also geht es um Gefühle. Und nur darum.
Der Trovatore beginnt ohne Ouvertüre und er wird ebenso abrupt enden. Gleich zu Beginn kommen grosse Gefühle zum Tragen, meistens oder nur in Form von Arien. Eifersucht, Fernweh, Mutterschmerz und so fort. Diese Gefühle kommen sich in die Quere, verwickeln sich ineinander oder befeuern sich gegenseitig und schaukeln sich hoch, bis die Musik sie in einem grossen Bogen auf den Punkt bringt. Dann verebben sie wieder. So werden von Höhepunkt zu Höhepunkt geführt, wie von einem Mandala zum andern.
Da fällt mir eine alternative Möglichkeit ein, wie man Verdi hören könnte. Man würde nur die Gefühle ankündigen, um die es in der folgenden Musik gehen wird. Angaben, aus welcher Verdi-Oper das Beispiel stammt, in welcher Tonart es gehalten ist und in welchen Stimmregistern, wäre für Interessierte höchstens in Fussnoten nachzulesen. Der Gesang könnte instrumental zur Aufführung gebracht werden. Gleichwohl wären die Worte der jeweiligen Arie unentbehrlich, zwar nicht in Hinsicht auf Handlungsabläufe, sondern vielmehr in Bezug darauf, welche Gefühle im Wort oder in der Redewendung zum Ausdruck kommen. So wäre die Oper als «Kraftwerk der Gefühle» laborartig unter Beweis gestellt, wie Alexander Kluge es in Worte fasst.
Bei diesem Vorgehen würde nebenbei, wiederum für Interessierte, die historischen Umstände geklärt, unter denen diese Musik entstand. Vieles, insbesondere die Kunst begreift sich erst als Ausgleich zu einer gesellschaftlichen Strömung, auf die sie Antwort gibt. Diese Strömung gilt es, auszugleichen, da sie für übermässig, jedenfalls schlicht für schädlich befunden wird. In der Zeit von Verdi, in der Spätromantik überhaupt, geraten ausgerechnet Gefühle in den Brennpunkt der Wissenschaft. Erste Psychiatrien entstehen. Wie so vieles wird auch das intime Innenleben von Menschen entzaubert.
Grund genung, dass man ihm in seiner natürlichen Blösse auf der Bühne freien Lauf lässt, damit sein Zauber erhalten bleibt. Wie bei allem, das man emporhebt, wird dadurch sein Wert erhöht.
Also hören wir nun kindliche Freude, durchkreuzt von mahnender Muttersorge. Anschliessend die Klage eines Helden nach vertaner Gelegenheit, skandiert vom Kummer seiner einsamen Geliebten ohne Botschaft. Schliesslich die Bitternis eines Fürsten nach Niederlage und Verrat.
Abstrakter gefasst: Wir hören Freude, Sorge, Reue, Kummer, Enttäuschung.
Und so fort.
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