Die erste Studienfahrt nach Berlin hätte eine ehemalige Bürgerin der DDR begleiten sollen, die wegen versuchter Flucht in den Westen verurteilt und bestraft worden war. Unser Vorhaben gedachte sie für eine erste scheue Kontaktnahme mit Berlin zu nutzen. Nach all den Jahren. Sie kam nicht.
Für uns eigentlich ein Glück, obwohl an ihrer Person nichts zu nörgeln war. Was jedoch hätte sie mit uns blödseligen Schweizern anstellen sollen? Immerhin wurde sie von dieser Vergangenheit noch heute eingeholt, wie sie frühzeitig zugab. Man stelle sich diesen Ausflug vor: Die Gruppe völlig entzückt ob all der Abenteuer, manche bierselig, andere sorglos dahinplappernd, sie düster gestimmt und ab und zu den Tränen nahe.
Die Sache gab mir nachhaltig zu denken. Es wäre ein Hohn, der Frau Ratschläge zu erteilen. Ich tat es nicht. Mein Leben hangelt sich wie ein Faultier von Ast zu Ast, beinahe unbeleckt von europäischen Verwerfungen. Kein Vergleich also. Und mein Verdruss darüber, dass ein Teil meiner Steuerzahlungen in die Europäische Union fliessen, gereicht zu keiner ernstzunehmenden Betroffenheit durch die Geschichte, wie sie jene Deutsche erlitt.
Dennoch melde ich mich mit dem kleinsten Finger erhoben und geduckt zu Wort, wie man die Sachlage anders lesen könnte. Das repariert keinen Schaden, aber vielleicht, so hoffe ich, macht es die Lage erträglicher.
Zufälligerweise bin ich in ein menschliches Gemeinwesen geboren worden, das seit einem halben Jahrtausend nur Frieden kennt. Vielleicht aus dem Grund, dass jeder Interessensträger, ob Einzelperson, Partei oder Verband, gegenüber dem Anliegen anderer einen Schritt zurücktut. Nicht sofort, aber irgendwann. Die Verfassung schreibt Raum für jede Meinung vor, Vernehmlassung, Initiativ- und Referedumsrecht. Alles läuft auf Ausgleich hinaus. Am Schluss befindet die Mehrheit über das weitere Vorgehen. Ansätze zu einer Staatssicherheit blieben bisher privater Natur, eine unbeholfen hemdsärmelige Geschichte, die in der so genannten Fichen-Affäre öffentlich wurde. Ein Freizeitunternehmen voller Sachfehler. Kein Vergleich zu Verhältnissen in der DDR mit professioneller Bespitzelung.
Daraus folgt: Das Bürgerrecht der Schweiz zu besitzen, veranlasst weder zu Stolz noch zu Scham. Es beruht auf Zufall. Keine persönliche Leistung, kein persönliches Versagen liegt vor, ausgenommen freilich der Fall, dass man einwandert und sich anpasst.
Das Gleiche gilt für die ehemalige DDR-Bürgerin. Was kann sie dafür, dass sie einem Gemeinwesen angehört, dem seit Jahren die Mitglieder davonlaufen? Mit der Mauer, eigentlich ein Todesstreifen, hat man das eigene Volk eingesperrt. Man kann es nachlesen: Zwischen 1949 und 1961 liefen fast drei Millionen DDR-Bürger in den Westen über. Ein Aderlass schlechthin, während die Mauer sich mit der Klammer vergleicht, die die Abfuhr an Blut im Schlauch blockiert.
Heute stimmt man darin überein, dass nicht die Mauer, sondern das gigantische amerikanische Sponsoring Westeuropas namens Marshallplan den Kontinent teilte. Das Gefälle an Wohlstand, das dadurch entstand, die freie Meinungsäusserung inbegriffen, wirkte wie ein Sog auf den kommunistischen Volkskörper Ostdeutschlands. Wohlstand bedeutet Entlastung. Idealisten mögen das verurteilen wie die Stasi-Beamten. Zu beachten ist, dass es auch indigene Völker gibt, die die westliche Lebensart zwanglos annehmen. Eine Karikatur zur DDR macht deutlich, dass das Staatswesen sich auflöst, wenn seine Bürger weglaufen. Die Fluchtbewegung greift an seine Substanz, an die Wurzeln seines Bestehens.
Was sollen solche Überlegungen der Deutschen helfen? Sie erlitt Stasi-Terror am eigenen Leib, durchstand Verhöre nach Scientology Art, wie sie in Potsdam an der Stasi-Akademie gelehrt wurden. Man setzte sie mit Lügen unter Druck, etwa sie hätten auch ihre Eltern verhaftet, und nur ein volles Geständnis sowie Angaben über weitere Dissidenten würde deren Lage verbessern.
Trotz alledem, ich meine, Linderung erfährt sie nur, indem sie für ihre Peiniger Verständnis aufbringt.
Und das bedeutet noch keine Entschuldigung, wie manche glauben. Verständnis erarbeitet das richtige Mass an Schuld oder Entschuldung eines bestimmten Falles. Das ist reine Gerichtspraxis.
Verständnis einer Sachlage, die uns zwingt, sie persönlich zu nehmen, führt dazu, dass wir das Unpersönliche an ihr erkennen.
Nur so ist Frieden mit der Welt zu haben.
Im Falle der Deutschen geht es um die DDR als Gemeinwesen, egal wie wir dazu stehen. Und jedes menschliche Gemeinwesen, dem die Mitgelieder abhandenkommen, befindet sich im Notstand und handelt entsprechend.
Wenn etwas Lebendiges derart in Frage gezogen wird, greift es zu härtesten Mitteln. Seit je überleben Menschen in Gruppen. Familie, Sippe, Stamm, Volk, Nationalstaat. Erst heute ist es ein Leichtes geworden, ein Gemeinwesen zu verlassen. Die Freizügigkeit innerhalb des Staatenbundes Europa lädt sogar dazu ein. Früher sorgte strikte Moralität solchen Abgängen vor. Schuld und ein schlechtes Gewissen belasteten das Gepäck.
Vielleicht sollte man die DDR sogar als einen Organismus begreifen, der seine Reflexe spielen lässt wie jede Lebensform, wenn er unter Druck gerät.
Ich weiss, diese Sichtweise stösst rasch an Grenzen des Erträglichen. Es gibt Opfer der Geschichte, für die sie nur Spott wäre.
Das kann ich leider nicht ändern.
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