Es gibt Momente, da würde ich gerne in die Sonne schauen können. Mit dem Auge des Ikarus. Aber dieser Blick ist uns verwehrt. Eine natürliche Empfindlichkeit hält uns davon ab. Sie könnte helfen, überhaupt Feinsinnige zu verstehen, für die auch Reize wie Strassenlärm unerträglich sind.
Von einem Kind weiss ich, dass es schläfrig wird, sobald es in den Leuchtfaden einer Lampe schaut. Bei weniger Empfindlichkeit blickten wir vielleicht wie in Trance in die Sonne. Dabei bekämen wir zu sehen, wie ihre Kernschmelze köchelt, bis ein Ausstoss uns selig begeisterte, als wohnten wir einem Feuerwerk bei.
Was den Blick in die Sonne anbetrifft, so sind wir eigentlich sogar Hochsensible. Von Natur aus. Wenn wir blinzeln oder die Augen kneifen, um den Lichteinfall zu lindern, verhalten wir uns wie Feinsinnige, die ihre Ohren dämpfen oder den Arbeitsraum wie Marcel Proust mit Kork auskleiden. Es gibt Menschen, die setzen sich zur Wehr, wenn man sie bei Nacht mit Blitzlicht fotografieren möchte. Andere suchen das Weite, sobald auch nur Angeheiterte sich nähern.
Feinsinnige kämpfen darum, für normal zu gelten. An der lästigen Art, wie sie sich gegen Grobfühlige auflehnen, indem sie ihre Nachlässigkeit verurteilen und ihnen genauere Vorsorge anempfehlen, bemisst sich die Stärke ihres Leidens.
Das mag als handliche Formel dienen, Sicherheit darüber, ob sie im Einzelfall zutrifft, besteht keine. Gewisse Feinsinnige fühlen sich zwar verstanden. Andere beharren darauf, dass das Fehlverhalten Grobfühliger allgemein gültig ist. An dieser Meinungsverschiedenheit können ganze Familien zerbrechen. Wenn ich meine, auch dieses Beharren sei nur ein Richtmass für das heftige Leiden bestimmter Feinfühliger, erschliesse ich damit kein Wissen, sondern liefere eine blosse Annahme, einen Glauben, wenn man so will. Diese Wahrscheinlichkeit bleibt bestehen, was den Vergleich mit unserer Scheu vor dem Blick in die Sonne und dem Verhalten Feinfühliger angeht.
Doch die Art und Weise, wie wir uns vor dem Blick des Ikarus schützen, indem wir getönte Brillen aufsetzen sowie Hüte mit Schattenklappen, beweist sogar, dass die genannten Fälle durchaus vergleichbar sind.
Das lässt sich fortspinnen. Überall, wo wir uns vor Einflüssen schützen, die uns hart bedrängen, sei es durch Helm und Panzerung, überhaupt jede Form von Ausrüstung und Vorkehrung gegen Krankheit, Wind und Wetter, immer dann verhalten wir uns, als wären wir zerbrechlich und feinsinnig. In gewissem Sinne sind wir es auch. Wer evolutionistisch denkt, hat eine klare Vorstellung von diesem Verhältnis: Umwelt und persönliche Verfassung bestimmen darüber, wie angepasst jemand lebt. Normalität kann darin nur kurzfristig gelten.
Der Grad an Empfindlichkeit gleitet zwischen Lebensform und Umwelt, zwischen Feinfühligen und Grobsinnigen, zwischen Kulturen, seien sie vergangen oder gegenwärtig. Und jede Normalität erweist sich als eine flüchtige Momentaufnahme in diesem Gleiten.
Das Verständnis für Feinfühlige ist damit gewährleistet. Wer es nicht vermag, sträubt sich aus besonderen Gründen dagegen.
So lösen wir spielend ein, was Richard Sennett als Respekt bestimmt. Nämlich dass wir anerkennen, was wir an Anderen nicht verstehen.
Oder eben nur vergleichsweise verstehen.
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