Bei Lügen gilt auch heute kein Pardon. Dabei wären Lügner eigentlich zu bemitleiden, aber nicht der Strafe wegen, die sie erleiden, wie etwa Ächtung im Alltag.
Mir war lange nicht klar, dass es überhaupt möglich ist, anders über Lügner zu urteilen, als seit je gängig. Ein Pädagoge meinte, wenn er von einem Schüler angleogen werde, habe dieser junge Mensch offensichtlich ein Problem. Und meistens seien es Probleme, die mit seiner Person als Pädagogen gar nichts zu tun hätten. Nicht im entferntesten. Da sah ich neue Möglichkeiten, darüber nachzudenken.
Eignet man sich diese Gelassenheit an, erscheint Lüge rasch als eine Angelegenheit intimer Ökonomie. Möglichkeiten sowie Ressourcen werden abgewogen, ohne dass man sich darüber mitteilt. Aber das kann die Sache moralisch zusätzlich belasten. Denn ökonomisch wird gerne verstanden als: Den kürzesten Weg nehmen. Mit einfachsten Mitteln vorgehen, statt Möglichkeiten beim Schopf packen, die zwar aufwändig wären, aber sozial besser verträglich. Nebst der tückischen Übervorteilung anderer wird dem Lügner auch diese Trägheit unterstellt. Bequemlichkeit zum Schaden anderer. Der Lügner benimmt sich hinterhältig, obendrein ruht er sich noch aus dabei.
Das ist zuviel des Schlechten. Wer tatsächlich aus Bequemlichkeit lügt, bekommt ohnehin früher oder später die Quittung vorgelegt. Nur wissen wir nie Bescheid, ob diese Unart bei jemandem vorliegt oder nicht. Es ist in jedem Fall eine Unterstellung.
Was bleibt, ist Lügen aus Not. Das bedeutet die letzte Reserve anbrauchen, die ultima ratio anpacken. Das wäre dann allerdings keine Ökonomie mehr. Und auch hier können wir nicht wissen, ob Lügner aus Not vorgehen. Und ob es dieser Person selber zusetzt, dass sie lügt. In beiden Fällen besteht ein Unwissen, und jedes Urteil, mit dem wir die Sachlage moralisieren, erfüllt den Tatbestand einer blanken Unterstellung. Wir durchschauen ja die Situation nicht, die zur Lüge führte. Auch wenn wir über zusätzliche Kenntnisse verfügten, etwa dass die betreffende Person schon als Lügner bekannt ist, wissen wir nicht, ob wir im Besitz aller einschlägigen Informationen sind, die nötig wären, um einen bestimmten Fall von Lüge ausgewogen zu beurteilen.
Aber ich entscheide mich für die Vermutung, die einen Notstand beim Lügen voraussetzt, da ich annehme, dass Menschen, wenn sie früher oder später auf ihr Leben zurückschauen, sich nicht als Lügner bestätigt sehen wollen. Mir sind Personen bekannt, die auf eine solche zukünftige Lebensrückschau hin Vorsorge treffen. Diese Einstellung kann ich nicht beliebig voraussetzen, aber sie hat Anstand im menschlichen Sinne: Ich begegne dir als jemandem, der irgendwann auf ein gutes Leben zurückblicken möchte. Auch wenn das im Einzelfall nicht unbedingt zutrifft, so pflege ich doch für mich diesen Blick, denn er wird eine Rolle spielen, wenn ich auf mein eigenes Leben zurückblicken werde.
Ich möchte dann jemand gewesen sein, der anderen so begegnet, dass er ihrem Bedürfnis Acht gab, einmal ein gutes Leben geführt zu haben.
Und genau hier setzt das Mitleid für Lügner ein: Ein Lügner weiss, dass er ein Lügner ist. Darüber kann er sich nicht selbst belügen. Tut er es doch, dann bestätigt er sich selbst als Lügner. Überdies ist ihm gewiss, dass er irgendwann auf sich als Lügner zurückschauen wird. Persönliche Identität kann ein mühseliges Problem sein. Bei Lügen steht sie fest: Ich bin jemand, der lügt. Das lässt sich nicht beschönigen. Im späten Rückblick schon gar nicht.
Ausserdem ist der Lügner jemand, der in einer Welt zu leben hat, von der er weiss, dass in ihr gelogen wird. Nämlich durch seinen Beitrag.
Zumindest.
Wer nicht lügt, sieht sich von dieser harten Gewissheit verschont. Ihm bleibt die Illusion.
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