Berner Oberland. Im Zug sind nur wenige Plätze frei. Ich setze mich neben eine füllige Chinesin, deren Jacke auf den freien Sitzplatz ausufert. Meine Gewohnheit, sie werde sie augenblicklich wegziehen, sobald ich mich setze, wie hierzulande üblich, wird enttäuscht. So komme ich auf den fremden Stoff zu sitzen, während die Chinesin selbst um keine Haaresbreite fortrückt, sodass wir uns in ganzer Breite berühren. Die Frau kommt mir stumpfsinnig vor. Eine rüpelhafte Idiotin.
Aber darin sollte ich mich irren. Wie so oft liegen wir kreuzfalsch, wenn wir fremde Kulturen beurteilen.
Auch ihr Mann sitzt im Abteil und die Tochter, die Englisch beherrscht. Moongirl kommt mit ihnen ins Gespräch, ich steige mit ein. Wir reden über die Dichte an Passanten. Für uns sind die Waggons überfüllt, den Chinesen jedoch erscheinen sie beinahe leer. Die Tochter übersetzt, das Thema sorgt für Heiterkeit. Angesteckt von dieser Fröhlichkeit deckt der Vater Moongirl mit einem Redeschwall an Chinesisch ein, obwohl sie versichert, kein Wort zu verstehen, während die Tochter ihre Mutter anweist, etwas von mir abzurücken. Die Frau entschuligt sich lächelnd. Von Stumpfsinnigkeit keine Spur.
Wir verstehen, dass körperlicher Kontakt mit Fremden in den Bahnen von Peking kein Tabu darstellt, da sie immer überfüllt sind. Niemand stört sich sogar daran, wenn man den Kopf auf die Schulter des Nachbarn legt. Die Situation bleibt unverbindlich. Das entsprach ganz der Gewohnheit der Chinesin.
Wenn wir in der Begegnung mit Fremden auf verstockte Blödheit schliessen, und das geschieht sehr oft, ist damit zu rechnen, dass sich eigentlich nur Gewohnheiten in die Quere kommen.
Und Gewohnheiten haben nichts mit Intelligenz zu tun.
Es gibt eine Art Schwerkraft der Gewohnheit. Und es ist schön zu sehen, dass auch Chinesen ihr erliegen.
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