Netflix bietet unter anderem auch exzellente Dokumentationen. Über den Vietnamkrieg zum Beispiel. Das erinnerte mich an Joggeli. Ein menschliches Gerippe, das bei uns zu Hause im Keller hing. Ein kleiner Mann, mit vorstehenden Schaufeln im Oberkiefer. Das Skelett war echt. Es war ein Vietcong. In seiner misslichen Lage gleichwohl ein Sieger.
Mein Vater hatte das Skelett 1970 gekauft. Unter seltsamen Umständen. Man traf sich auf einem Parkplatz. Im Heck eines Privatwagens lagen zwei Gerippe verpackt, zwischen denen der Käufer wählen konnte. Joggelis Schädeldecke liess sich aufklappen, und ich legte gerne eine Taschenlampe in seine Gehirnschale, sodass der Schädel aus den Augen leuchtete. So genossen wir das Böse im Dunkeln. Meine Schwester und ich nannten das Gerippe so, wohl in Anlehnung an die Kindergeschichte mit den Birnbäumen.
Ein Marine, der sich der Protestbewegung anschloss, gesteht im Rückblick seinen unbändigen Hass auf den Vietcong. Darauf stellt er die Frage, woher dieses Böse in ihm käme. Und er beschenkt uns mit einer Antwort aus erster Hand, sowie überhaupt die gesamte Dokumentation beiläufig Auskunft darüber gibt, was dieses Böse sein könnte. Schweizer Kinder mögen es geniessen, indem sie mit Taschenlampfen und einem Skelett herumspielen. Das gibt lediglich zu erkennen, dass sie davon keine Ahnung haben.
Einmal mehr bestätigt sich aus meiner Sicht, dass wir aufhören sollten, dieses Böse in der Fratze irgendeiner Lebensform zu suchen, die sich hämisch die Hände reibt. Denn Fratzen dienen der Verteidigung. Im Angriff würde man unnötig Kraft verbrauchen. Ein Puma schnappt ohne Knurren und Zähnfletschen nach seiner Beute. Wenn es jedoch zutreffen sollte, dass das Böse Fratzen schneidet, dann liegt es in der Verteidigung. Vielleicht sind wir damit der Antwort auf die Frage, was das Böse sei, schon ziemlich nahegekommen.
Der Marine erzählt, er habe keine Menschen getötet, sondern «Schlitzaugen», «Gelbe» oder eben «Kommunisten», wo immer sie greifbar waren. Den Gegner habe er entmenschlicht, zu einer Sache herabgewürdigt, am besten zu einer tierähnlichen Lebensform, damit er ihn töten konnte, ohne den Verstand zu verlieren. Also eine Art Sicherstellung. Eben Verteidigung. Nicht auszudenken, der Marine hätte sich über den Gegner Gedanken gemacht. Dass dieser ganz bestimmte Vietcong, vielleicht mit vorstehenden Schaufeln im Oberkiefer, dass dieser Mensch, während er ihn tötet oder schwer verwundet, Kind seiner Eltern ist und womöglich Vater oder Mutter von eigenen Kindern.
Für den Marine bedeutete diese Entmenschlichung ein Werkzeug, wie er es in Worte fasst. Folglich etwas, das unverzichtbar ist. Nur so gelingt es, den Befehlen nachzukommen. Das mag eine persönliche Geschichte sein, die manches über das Böse erzählt. Der Befehl aber führt diese Frage weiter. Gleichsam auf eine andere Ebene, von der aus das Böse neu zu fassen wäre. Denn der Befehl erging in einem Krieg ohne Fronten und Kriegserklärung. Er lautete: Töte soviele Gegner wie möglich und zähle ihre Leichen. Unter dem Einsatz von Napalm und Entlaubungsmittel erscheint der Marine als eine Art Volkswirt, der unwertes Leben ausmerzt. Das kommunistische «Schlitzauge» ist im Rundumschlag abzufackeln. Wie eine Wolke von Heuschrecken. Mit dem M16 als Spraydose. Und der Marine bliebt bei Verstand.
Dieser Vorgang gehört wohl zur Natur des Krieges. Vergleichbares ist unter anderem vom 1. Weltkrieg bekannt. Gerade Pazifisten, die sich viel Naturnähe anmassen, lehnen diese Sichtweise ab. Für sie gibt es keine Natur des Kriegs, sondern bloss Unvernunft. Der Marine meint jedoch, Pazifisten verlangten ihnen eine Zurückhaltung ab, die in Umständen des Krieges eben schlicht unnatürlich sei.
Für uns, die wir keinen Krieg kennen, gilt wohl der Respekt, dass unter diesem Druck kein Verstand in der Lage ist, wie gewohnt mit Sorgfalt Unterschiede und Gemeinsamkeiten abzuwägen. Vielmehr schützt er notwendig sich selbst, indem er herabwürdigt und versachlicht, was gegen ihn wirkt. Die Sorge, bei Verstand zu bleiben, stellte sich in Vietnam dringender als früher. Bei täglich drei Feindberührungen im Durchschnitt, wohingegen es im Zweiten Weltkrieg in drei Wochen zu durchschnittlich einem Vorfall kam. Dieses Verhältnis versteht sich sinnbildhaft, nicht wörtlich. Der persönliche Verstand hatte zusätzlich den Meinungskampf zu bewältigen, der zu Hause tobte. Diese Herausforderung stellte sich zu Hitlers Zeiten nicht. Nicht zu vergessen die Drogen, die in einer Gegenwelt zu Schlamm, Feuer und Blut Erholung boten. Aber sie zersetzten den Verstand. Das ergibt ein Gemenge an Gefühlen und Überzeugungen, das bei stündlicher Todesangst leichterhand zu Wahnsinn führt. In dieser Drucksituation wird der Rundumschlag zu einem sachlogischen Mittel oder Werkzeug, wie wir es eben auch dann nüchtern und planmässig einsetzen, wenn Schädlinge ganze Felder beschwärmen.
Dieser äusserste Fall wirft womöglich ein Licht auf harmlosere Varianten von Hass. Wie Rassismsus im Alltag oder allgemein Populismus. Fremdes wird herabgewürdigt, da es den Alltag schwierig macht. Es sorgt für eine unerträgliche Viefalt an Möglichkeiten. Das überfordert den Verstand. Demnach zeugen Rassismus und Populismus von einem geringen Fassungvermögen. Glücklich all jene, denen ein Verstand angeboren ist, der sich von Komplexem sogar herausgefordert sieht.
Hass erklärt sich vielleicht als ein organisches Zusammenziehen unter Einflüssen, die wortwörtlich hereinfluten.
Ein Marine erinnert sich daran, dass einzelne Vietcong sich vorbehaltlos opferten, indem sie im Alleingang Panzer angriffen. Das wolle schon was sagen, kommentiert er nachdenklich seine Erinnerung. In ihrer Versachlichung erkannten die Amerikaner im Angreifer nur ein Störwesen, das in seiner instinkthaften Tollkühnheit um so strikter zur Strecke gebracht gehörte. Wäre er ihnen als Mensch erschienen, hätten sie seine beispiellose Entschlossenheit erkannt und darin ihr Scheitern voraussehen können.
Diese sonderbare Befehlslage verweist auf eine Politik, bei der nachträglich klargestellt ist, dass sie beinah von Anbeginn mit Lügen vorging. Ein Soldat benennt die Unmöglichkeit, derlei nachhaltig zu vertuschen. Die Dinge bluten durch, sagt er. Nur wer Verletzungen kennt und ihre Pflege durchlebte, ist zu solch starken Vergleichen fähig.
Die Mitschnitte von Gesprächen zwischen Präsident Johnson und seinen Ministern bieten jedenfalls politischen Zündstoff. Bereits ein Jahrzehnt vor der amerikanischen Niederlage wird die Aussichtslosigkeit erkannt, jedoch als Richtmass für weitere Entscheide bis zuletzt ausgeblendet. Stolz und Machterhalt mögen Gründe dafür sein. Aber vielleicht sind weitere Gespräche anzunehmen, von denen es keine Mitschnitte gibt. Mit Personen, die Einfluss haben, jedoch um keinen Preis sich die Hände schmutzig machen. Wahrscheinlich haben sie es auch nicht nötig.
Immerhin haben die Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg die Erfahrung gemacht, dass Krieg, sofern er auf fremden Boden ausgefochten wird, die heimische Wirtschaft mächtig auf Touren bringt. Dank der Rüstung einerseits, aber auch dank dessen, dass man der Wirtschaft eines gedrückten Volkes wie der Vietnamesen auf die Sprünge hilft. Zumindest einer Hälfte davon. Das war Kriegsindustrie und Marshallplan in Einem.
Die Vermutung, dass die Amerikaner deshalb wider alle Vernunft so lange in Vietnam blieben, ist keineswegs aus der Luft gegriffen. Demnach wäre es nie um Sieg gegangen, sondern um Wertvernichtung. Genauer um die Wertschöpfung, die zwangsläufig damit einhergeht, indem man Mittel zur Vernichtung anfertigt und verbraucht. Dann wäre manchem Soldaten das unsinnige Unternehmen, wenn er einen Hügel unter Blutzoll erkämpft hatte, bloss um dann wieder abzuziehen, durchaus zweckmässig erschienen. Belagerte Militärstützpunkte hat man unter Schrecken entsetzt und gesichert, danach aber einfach geräumt. Auch war es schwer zu verkraften, in einem Gelände zu kämpfen, das erneut an den Gegner gefallen war. Am schlimmsten setzte dieser Unsinn zu, wenn man bei zweiten Mal verwundet wurde. Wäre bekannt gewesen, dass es letztlich um Wirtschaft geht, hätte man jeden Rückschlag, jedes erfolglose Bombardement, jeden nur knapp erledigten Hinterhalt als zweckmässig verbuchen können.
Denn man hätte Bescheid gewusst, dass sich alles nur um Wertevernichtung drehte.
Geländegewinne waren also zweitrangig. Seltsam auch, dass man die Rechner des Pentagons untentwegt mit Daten fütterte. Nicht nur mit der Anzahl gegnerischer Leichen. Und der Rechner spuckte ein Datum des Sieges aus, nämlich der Zeitpunkt, errechnet aus der Zahl der Tötungen im Verhältnis zum Nachschub an gegnerischen Truppen. An Vietcong. Laut Rechner hätte das in etwa um 1967 der Fall sein sollen. War es aber nicht.
Wenn ich in der Doku sehe, wie Amerikaner an der Wand der Erinnerungsstätte zum Vietnamkrieg mit der Hand die Namen der Gefallenen berühren und zugleich bedenke, dass das amerikanische Bruttoinlandprodukt auch in jener Zeit unbeirrt stieg, und zwar mit der gleichen exponentiellen Regelmässigkeit wie vor und nach dem Krieg, dann beschleicht mich doch ein eigenartiges Gefühl. Der Krieg zeichnet sich in diesen Werten nicht ab. Zwar handelt es sich um Mittelwerte, die öffentlich greifbar sind. Aber der Vietnamkrieg stört den regelmässigen Anstieg nicht.
Trotzdem ist die Wertschöpfung Krieg darin genauso miteingerechnet wie viele andere Truppengänge der Vereinigten Staaten auf ausländischem Boden bis heute.
Sie alle tragen dazu bei, dass das Bruttoinlandproukt der Vereinigten Staaten gesund bleibt.
Man braucht keine Verschwörungtheorie zu bemühen, um diesen offensichtlichen Zusammenhang bedenklich zu finden. Ernstzunehmende Kritiker wie Noam Chomsky betonen die wirtschaftliche Bedeutung von Kriegen. Der Hinweis auf diesen Zusammenhang überlebt auch Korrekturen in Wiki-Texten zur Geschichte, die bekanntlich unter Argusaugen stehen.
Wenn das Bruttoinlandprodukt der USA mitsamt aller Waffengänge regelmässig steigt, kommt man unweigerlich zum Schluss, dass es ohne nicht geht. Und wenn wir die Vereinigten Staaten als Motor der westlichen Zivilsation erachten, so sind auch wir es, die für den Wohlstand, den wir gewohnt sind, immer wieder Kriege benötigen. Es heisst sogar, die verräterische Veröffentlichung der Pentagon-Papiere sei letztlich auf Druck bestimmter Wirtschaftskreise erfolgt, die im Gegensatz zu ihrer Konkurrenz aus dem Krieg keinen Profit zogen. Die Quelle dieser Information jedoch ist eine sozialistische Zeitschrift. Bei aller möglichen Wahrheit lässt sich das leichterhand als Propaganda abtun.
Wirtschaft also. Auch ein handliches Feindbild. Habgierige Menschen, die keine Mittel für ihre Zwecke scheuen, sind gewiss im ökonomischen Getriebe bestmöglich platziert. Aber sie allein erklären Wirtschaft nicht als heimlicher Garant für Kriege im Ausland. Auch sie erscheinen mir als blosses Mittel zum Zweck.
Aber von wem? Lyndon Johnson macht in einem Gespräch mit einem seiner Vorgänger, Eisenhower, eine sonderbare Aussage, als er die Fortsetzung dieses von Anbeginn unsinnigen Krieges zu rechtfertigen sucht. Er beklagt, alle redeten immer nur von Individualrechten, dabei gingen die Rechte der Massen leicht vergessen, «Rights of the masses» [Folge V / 53.27]. Von diesem Recht habe ich noch nie gehört. Das Völkerrecht kann Johnson unmöglich gemeint haben, denn für den Waffengang in Vietnam hatte es, wie so oft, kein UNO-Mandat gegeben.
Die Bezeichnung Recht der Massen kommt mir derart urtümlich und grobschlächtig vor, dass mir sogleich Ameisenvölker in den Sinn kommen, die übereinander herfallen. Fühler und Beine werden abgezwackt, Säure wird versprüht. Vielleicht sind wir damit der Antwort auf die Frage, was das Böse sei, nähergekommen, als uns lieb wäre.
Was wäre dieses Recht der Massen, wenn nicht die verbriefte Anerkennung, dass ein Gemeinwesen mit allen Mitteln seinen Fortbestand sicherstellt? Vielleicht wird dieser übergeordnete Trieb in der persönlichen Rache, im persönlichen Hass des einzelnen Kämpfers auf den Punkt gebracht, vielleicht sind sie Tricks oder Reflexe seines Wirkens. Etwa in der Art, wie die Angst des Diktators vor seinem persönlichen Untergang irgendwann mit dem Fortbestand seiner Diktatur in eins fällt. Es handelt sich dann um den ein und denselben Impuls.
Wie wenn der Marine aus Hass tötet. Seine persönlichen Beweggründe dienen somit dem Recht der Massen.
Selbsterhalt, Fortbestand. Das Recht der Massen betrifft ebenso ihre Versorgung. Wirtschaft also. Vielleicht sollte man auch ihre Versorgungsprozesse als etwas Natürliches erachten. Etwas Nervliches sogar. Das wäre ja nichts Neues. Adam Smith’s Bezeichnung des freien Markts als unsichtbare Hand ist weltbekannt.
Vielleicht ist das Präsidentenamt dazu da, die wirtschaftliche Dringlichkeit zu einem Krieg so zu handhaben, dass diese schreckliche Logik verdeckt bleibt. Das Böse bekommt dabei eine neue Aufgabe. Es soll den Gegner als Gefahr fixieren, damit der hohe Bedarf der Massen nach wirtschaftlicher Versorgung moralisch reingewaschen wird.
Ihn zu vernichten wird dann zur vaterländischen Pflicht.
Vietnam 1967 oder Irak 2003. Die Massen müssen versorgt sein. Und auf dem Niveau eines Wohlstands, der nicht nur Rohstoffe verbraucht, sondern auch Menschenleben opfert. Unter diesem Blickwinkel erscheint es offensichtlich, dass man sich vor den Massen westlicher Kultur schützen möchte. Und die Klage einer Joan Baez, wann die Kriegstreiber es endlich lernten, keinen Krieg zu führen, erscheint unter diesem Blickwinkel völlig weltfremd.
Die Aufklärung, auf die sich die Sängerin beruft, scheitert am Recht der Massen.
Vielleicht hat der Rechner im Pentagon ein weiteres Datum als Ende des Vietnamkrieges ausgespuckt, aber gewiss nicht den Zeitpunkt, den man als Ende des Vietnamkrieges in Schulen lernt. Es ist wahrscheinlich der Herbst 1972, mit dem Pariser Waffenstillstand.
Als man die Südvietnamesen im Stich liess.
Auf dem Zettel, den der Rechner ausspuckte, stand weder «Sieg» oder «Niederlage», auch nicht «Rückzug» oder «Heimkehr».
Sondern: «Die Kassen sind voll.»
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