Die Stationen der Warschauer Strasse bedienen die Berliner Stadtteile Nordkreuzberg und Friedrichshain. Bis vor Kurzem prägte eine wunderbare Weltstimmung diesen Ort. Nun wird auch dort gentrifiziert.

Auf Treppe und Steg, die behelfsmässig den Bahnhof der Stadtbahn mit der Verlängerung der Oberbaumbrücke verbanden, immerhin auch auf der Brücke selbst, die freilich noch steht, fühlt man sich wie nirgends sonst in den Himmel über Berlin emporgehoben.

Der Blick geht weit. Kräne und Gebäude wirken wie Scherenschnitte ins Abendlicht geklebt. Dann die Lichter in der Nacht, so weit und so klar in der Bläue, die oft von lauen Brisen durchzogen wird. Es wimmelt von Menschen aller Art, tagsüber genauso wie tiefnachts und frühmorgens. Hippies, Punks, Freak-Touristen, Zigeuner und ganz besonders Afrikaner mit ihren Götterspeisen für zahlkräftige Europäer, die nach Leben hungern. Was völlig fehlt, sind eilige Passanten mit Aktenkoffer und Händy am Ohr. Warschauer Strasse steht in keiner Agenda der Hochfinanz. Wie im Übrigen Berlin als solches nicht.

Eine alte Frau sitzt am Gehsteig und verkauft Nippsachen. Ihren Kopf ziert eine gestickte Haube von früher. Und sie lässt Tanzmusik aus den 20ern aus der Dose schmettern. Eine Ikone schlechthin.

Dort, wo der Steg in die Brücke mündete, verkauften sie rund um die Uhr derbe Kost, besonders gegen Morgen hin, wenn der Salzbedarf hoch war.

Am Endbahnhof der historischen Untergrundbahn singt eine Hippieseele ins Mikrofon. Inmitten Brückenverkehr und berauschten Passanten. Man bleibt stehen, wiegt sich zum Sound. Der Freak-Tourist durchlebt einen Höhepunkt seines Aufenthalts. «Deine Liebe wird jeden Tag süsser», bekommen wir im Stile einer Joan Baez zu hören.

In den geschlossenen Brückenbögen unter der Strasse wummern harte Rhythmen der Clubs. Ihre bunten Lichter blinken hinter verklebten Fenstern direkt unter dem Endbahnhof.

Entlang der Spree tummeln sich Verliebte, Bekiffte, Romantiker. Dichtgedrängt auf der Brücke nehmen sie sich Zeit für den Sonnenuntergang. Eine junge Frau radelt indes von Abfalleimer zu Abfalleimer und sammelt Pfandgut. Dabei blickt sie nicht auf. Wer überleben muss, hat in diesem Bereich, in dem er notwendig verbleibt, auch noch diese Schweifer zu ertragen, die für wenige Tage hier einfallen und sich nach Strich und Faden gehen lassen. Grosszügig bleiben ihre Pfandflaschen dort liegen, wo der letzte Tropfen fliesst.

Diese Touristen, hier Freaks auf Zeit, immerhin jedoch Devisenbringer und verlässliche Abnehmer von Weed, werden geduldet, aber nicht geliebt, denn sie sind Vorboten von härteren Tagen, mit Ingeborg Bachmann gesprochen: Auf der Wiese eingangs Friedrichshain, die von Punks und ihren Hunden in einem dauerhaften Dunst von Pisse und Schweiss bevölkert war, sind nun ganze Reihen von Stangen versenkt und einbetoniert, an denen Fahrräder abzuschliessen sind.

Auch der Stadtbahnhof Warschauer-Strasse erfährt eine Modernisierung. Sie währt allerdings auch schon einige Jahre. Wer will schon Kapital in diesen Stadtteil pumpen, wenn eine verratzte Station vermögende Kunden vom Aussteigen abhält? Auch der Siffgürtel entlang der Revaler-Strasse wird demnächst weichen. Gentrifizierung also. Das Kapital hat seit 2008 seine sichere Heimat in den Finanzmärkten verloren und sucht nervös nach einer neuen. Immobilien empfehlen sich dafür. Und schon stehen mitten in Friedrichshain die ersten Eigentumswohnungen ausgeschrieben. So erging es dem Prenzlauerberg, wo sogar gut betuchte Althippies aus der Schweiz den Bodensatz jeder Gesellschaft herauszukehren halfen, indem sie Wohnungen kauften und die Lebenskosten für Einheimische in die Höhe trieben. Liebevoll reden sie von ihrem «Prenzlberg»

Früher oder später werden die Gastbetriebe von Friedrichshain Angebote zur Übernahme erhalten, die auszuschlagen erhebliche Mühe kosten dürfte.

Und es macht mich verlegen, dass ich das so hinnehme.

Ich will Zeuge sein von blosser Veränderung. Das reizt mich.

Und es beschämt mich. Denn ich sammle kein Pfandgut. Die Penner hingegen bunkern schon viel mehr Glas als früher. Ganze Wagen stehen gefüllt im Schatten. Ein weiteres Zeichen für die härteren Tage, die da kommen.

Wenige Augenblicke später zieht einer dieser Randständigen der Warschauer Strasse entlang.

Sämtliche Taschen seiner ausgedienten Bundeswehrkleidung hat er mit Flaschen vollgestopft, er scheint geradezu behangen von Glas, das klirrt bei jedem seiner stampfenden Schritte.