Vorbehalte gegenüber Behinderung sind infam geworden. Niemand entblösst sich gerne als Person, die Mühe mit Behinderten hat. Das wäre politisch unkorrekt. Wenn man die Dinge philosophisch zu klären sucht, darf man sich allerdings nicht mit politischer Korrektheit bequemen. Denn auch diese Vorbehalte sind in natürlicher Weise tief menschlich. Was sie, wie beim Menschlichen überhaupt, nur bedingt entschuldigt.
Wenn man philosophisch vorgeht, nimmt man grösstmöglichen Abstand zum Sachverhalt ein, der zur Debatte steht. Ich darf mich bei keinerlei Empfindlichkeiten aufhalten. Abweichung von der Norm macht uns zu schaffen. Wir fürchten um Anschluss und damit um unser Überleben. Bei Behinderung fällt die Abweichung ins Auge. Sie kommt offen daher. Man braucht sie nicht zu deuten, im Gegensatz zu abweichendem Verhalten, das zu keiner Typologie Anlass gibt, aber dennoch den alltäglichen Umgang prägt, wie leichte Erregbarkeit, Feinfühligkeit, seltsame Ängste und so fort. Gesellschaftliche Unterstützung ist ihr heute sicher. Eine querschnittgelähmte Person braucht sie sich nicht zu erstreiten. Feinfühlige Leute hingegen schon. Von Finanzausgleich ist keine Rede, aber auch Verständnis ist ihnen selten sicher. Eher sehen sie sich als bequeme Mimosen verschrien, wenn sie sich Erleichterung verschaffen. Dabei verlangt ihr Kräftehaushalt dringend danach. Feinfühlige eignen sich eine Fitness an, die für andere unsichtbar bleibt. Ihre Erschöpfung wird nicht gewürdigt.
Es gibt Menschen, die sich mühevoll anpassen, aber sie erfahren keinerlei Zuwendung. Ihr Vorbehalt gegenüber Behinderung läge auf der Hand.
Normal ist eben nicht die Erfüllung der Norm, sondern die Abweichung von ihr. Vielleicht erklärt das, warum wir Normalität beinahe beschwören. Ich halte sie für einen Kompromiss, der nur öffentliche Gültigkeit hat.
Die Menschen, die mit mir zusammenleben, sind sich darin einig, dass auch ich einen Schaden habe. Aber wir wissen immer noch nicht genau, welchen.
Die Sache jedoch wurzelt tiefer. Menschen verlassen sich auf Dinge, die zuverlässig ablaufen und dabei ihrer Einflussnahme entzogen sind. Die Natur zum Beispiel. Andere vertrauen lieber Mechaniken. Uhrwerke, künstliche Intelligenzen. Sie halten sie für eine Natur zweiter Ordnung. Die Natur bietet Schutz und Sicherheit, indem sie Gleiches unter gleichen Umständen wiederkehren lässt. Geburt und Tod, Schlafen und Wachen, die Jahreszeiten, fünf Finger an jeder Hand, Sprachfähigkeit. Das Problem, das uns zusetzt, liegt darin, dass es die gleiche Natur ist, die auch Abweichung hervorbringt. Missgeburten, Verkrüppelungen.
Also ist unser Vertrauen in die Natur nur bedingt gerechtfertigt. Trotzdem sind wir auf ihr Funktionieren angewiesen. Auf Gedeih und Verderb. Ein Herzchirurg koppelt bei einer Transplantation alles richtig aneinander. Irgendwann wird das Herz zu schlagen beginnen, ohne dass er die Kontrolle darüber hätte.
Wir sind auf etwas angewiesen, das durchwegs zuverlässig abläuft, aber unvermittelt vom gängigen Kurs abweichen kann.
An diese Unsicherheit erinnern Behinderungen. Sie macht diese Vorbehalte aus.
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