Man kennt es: Eine Freundschaft zerbricht. Und es heisst dann, er oder sie habe nun ihr wahres Gesicht gezeigt. Wahrheit hat zentrale Bedeutung. Im Privaten wie in der Öffentlichkeit. Dieses Anliegen steht über vielem, aber es verschleiert Beweggründe, die tiefer liegen.
Der Computer im Film Interstellar rät von hundertprozentiger Ehrlichkeit ab. Sie sei ein zu riskanter Umgang mit Lebensformen, die Gefühle hätten. Die Situation erlaubt diese Treue zur Wahrheit nicht. Im All befindet man sich in jeder Hinsicht in einer dauerhaften Notlage.
Unter uns geschehen täglich Ernstfälle zuhauf, die nahelegen, dass man die Wahrheit verzerrt, einfärbt oder eben unterschlägt. Aber es ist heikel, von aussen zu ermessen, inwiefern es Notfälle sind. Feinfühlige leiden unter Sport. Für sie ist er Schmerz. Nach meiner Erfahrung ist das wörtlich zu nehmen, auch wenn es unserer Gewohnheit zuwiderläuft. Mehr noch, es ist ernst zu nehmen, gerade weil es abweicht.
Wieviel Wahrheit verträgt der Umgang mit einer demenzkranken Person? Oder mit einem Kind, das von seiner unbeholfenen Kritzelei hofft, dass wir sie toll finden? Kant duldete auch keine Notlügen, ebenso wenig die so genannten weissen Lügen, bei denen niemand Schaden nimmt. Doch Kant zielte auf Grundsätze für Regeln ab, die unter allen erdenklichen Umständen gültig sind und förderlich für das Zusammenleben aller mit allen. Daher duldete er in Sachen Unwahrheit auch nicht den Hauch einer Nachsicht.
Im Kartext: Kant verlangte Regeln ohne Ausnahmen. Das ist vielleicht das Preussische an ihm. Und das Preussische bedeutet, auf einen Nenner gebracht:
Hohe Verwundbarkeit verlangt hohe Sicherheit. Wahrheit ist nur ein Mittel dafür.
Und genau das zeigt sich am Beispiel der Freundschaft, die zu Bruch geht. Warum soll dieses Gesicht wahr sein, das bisher unerkannt schlummerte, das andere, seit je vertraute hingegen verlogen? Es könnte ja umgekehrt der Fall sein. Oder beide Gesichter könnten wahr sein. Wie bei einem Muttertier, das ihre Jungen erst behutsam pflegt, dann aber Fratzen schneidet und zuschlägt, wenn es darum geht, dass sie sich von ihr lösen.
Das unerkannte Gesicht, das auf einmal irritiert, halten wir für wahr, weil wir uns vor weiterer Enttäuschung absichern wollen. Sonst gäbe es keinen Grund, hier überhaupt Wahrheit ins Spiel zu bringen.
Nicht Wahrheit steht über allem, was unser Leben angeht, sondern Sicherheit. Und Wahrheit steht sehr oft in ihrem Dienst.
Wahrheit ist die Hure der Sicherheit.
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