Die Eitelkeit der Logik ist ja imstande, eines Menschen Hirn gänzlich zu verwirren.
E. A. Poe
Ein Hohlweg, östlich unserer Gemeinde gelegen, hat es mir angetan. Von einem schweren Schlaf aus dem Haus getrieben und behändigt mit einem Buch aus barocker Zeit suchte ich den Ort auf, damit ich mir die Verhältnisse von damals möglichst lebendig vor Augen führte, als man mit Maultieren diese Wegmulden abwanderte, vor Winden und vor Wegelagerern halbwegs geschützt, die von fern die Lage ausspähten. Verletzt, verkrüppelt, in tiefen Wäldern von hungrigen Köhlern ausgenommen, schleppte man sich dahin, den Weg entlang in den Ort, woher die Glocke rief und so die Richtung gab. Dieses Leiden suchte ich zu gewärtigen, damit ich den Vorzügen heutigen Lebens besser bewusst würde.
Mitten auf dem Weg blieb ich stehen und zog das Buch aus der Manteltasche. Darin standen Sinnsprüche versammelt. Eine Seufzerapotheke zur Erquickung und Labsal für Kranke und Sterbende. Es bot Trost gegen Todesfurcht, Seufzer in Schwermut. Gebete für Waisen, Abendseufzer, Seufzer für Einfältige, für säugende Mütter, für Schwangere vor ihrer Niederkunft. Seufzer um Geduld und Gelassenheit. Seufzer gegen die Trägheit des Herzens. Ich las und schloss die Augen und fühlte eine laue Brise im Gesicht.
Da hörte ich tatsächlich Schritte sich nahen. Mein Herz pochte. Eine Gruppe kam auf mich zu. Zu meiner Verblüffung waren es keine mittelalterlichen Menschen in Lumpen, sondern junge Leute, mit Sonnenbrillen und Kopfhörern auf, die Jacken lässig über die Schultern geworfen und mit Tablets in Händen. Sie filmten, hörten Musik. So zog die seltsame Prozession an mir vorbei. Jemand nahm interessiert das Buch aus meiner Hand, ich liesse es geschehen, ein anderer fotografierte die aufgeschlagene Seite. Die Daten flossen ins Netz und verlinkten sich mit Wissen aus Foren und Archiven. Nach wenigen Augenblicken hielten sie mir den Bildschirm eines Tablets hin, worauf sich andere Textseiten des Buches öffneten, die bereits einkopiert worden waren. Darin leuchteten Querbezüge farbig auf, bevor ganze Tabellen und Schemata mit Konklusionen einer sekundenschnellen Analyse aufklappten und zum Teil wieder verblassten. Die jungen Leute liessen mich staunen, zogen aber weiter.
Weiter den Hohlweg entlang, den ich gekommen war. Irgendwann waren sie fort.
Bestürzt blickte ich auf meine leeren Hände.
Das barocke Buch war noch immer in meiner Manteltasche versorgt.
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