Ein Kinderskirennen ist eine kleine Hölle auf Erden. Für beinah alle Beteiligten. Wie komme ich bloss darauf? Die Amerikanerin Jean Liedloff hat unter indigenen Völkern Lateinamerikas gelebt und ihre Erfahrungen zu einer Denkweise zusammengefasst, die sie Kontinuum-Konzept nennt. Damit ist eine natürliche Entwicklung gemeint, die zum Beispiel engen Körperkontakt unter Eltern und Kindern vorsieht, bis das Kind sich selber daraus löst. Gestillt wird nach Bedarf. Liedloff war darüber erstaunt, dass indigene Kinder nie jammern. Stattdessen wachsen sie zu natürlich freundlichen Menschen heran. Die Eltern richten ihre Aufmerksamkeit auf ihre tägliche Arbeit, während die Kinder ihnen unentwegt in kleinen, flinken Schritten folgen, als verknüpfte sie ein unsichtbares Band. Vielleicht erklärt diese körperliche Anstrengung, warum Kinder Fett und Zucker lieben, während Gemüse sie anwidert.
Wer die Städte nach Spielplätzen durchkämmt, sieht die völlige Verkehrung dieses Prinzips: Geschrei und Gejammer überall, während die ganze elterliche Aufmerksamkeit auf den Kindern ruht. Damit sei noch kein Zusammenhang zwischen Geschrei und Aufmerksamkeit behauptet, aber er leuchtet bequem ein, zumal Kinder ihr Leid natürlicherweise daran messen, wie Erwachsene auf den jeweiligen Vorfall eingehen.
So gesehen dürfte sich der eigenartige Blickwinkel vom Kinderskirennen als kleine Hölle geklärt haben: Eine weisse Insel inmitten Grün, eine kurze, künstlich beschneite Piste. Die Kinder bestens ausgerüstet, in bunten Farben, in erlesenen Marken, Skihosen, Skianzug, Skibrille, Skihandschuhe, Skihelm, fehlten noch Knieschoner und Rückenpanzer. Sie rutschen wenige Meter unter ständiger Beobachtung. Eigentlich sollten sie immer weniger im so genannten Stemmbogen fahren, der ihnen doch erste Sicherheit gibt. Die Bretter sind immer enger zu führen. Knie beugen, weniger gebückt fahren. Auch wäre es jetzt an der Zeit, dass sie sich vom Baby-Hügel lösen, hört man Väter abgeklärt mahnen, sofern sie zugegen sind. Die blaue Piste ruft, aber das Kind sträubt sich, während die Eltern Unverständnis zeigen, denn sie schielen begierig nach weiteren Fortschritten ihrer Brut am künstlich beschneiten Abhang.
Woher diese Ungeduld? Der Druck kommt nicht von ungefähr. Es sind die Grosseltern, die als Gäste nach ausgiebigem Frühstück erscheinen und abseits stehenbleiben. Sie geben sich freundlich und heiter, wie sie es früher selten waren, und halten die Arme auf dem Rücken in respektvoller Untätigkeit verschränkt. Immerhin haben sie ein ganzes Leben gemeistert, zehren von ihrer Pension, die laut öffentlicher Verlautbarungen nur schon für ihre Kinder nicht gesichert scheint. Ein Grund mehr zur Unruhe. Tatsächlich sind die Grosseltern Begünstigte eines Wirtschaftswunders, das längst verpufft ist. Genau genommen war es ein riesiges Sponsoring aus amerikanischem Säckel.
Hin und wieder halten die betagten Leute ihre behandschuhten Hände als Blende über die Augen, damit sie die Enkel ausmachen und ihrer Fahrt folgen. Wie immer werden sie sie überschwänglich loben. Damit entlasten sie ihre eignen Kinder als deren Eltern, die froh sind, wenn ihre Kleinen lerntüchtig fahren, bestenfalls sogar ein dümmliches Rennen gewinnen, damit ihr eigenes Versagen, von dem es immer welches gibt in einem Leben, sei es beruflicher Art oder in Hinsicht ihrer Beziehungsführung, von der lästigen Rechnung gestrichen wird, auf die die Alten immer wieder den Finger legen. Denn das Scheitern ihrer Kinder, das sich darin zeigt, dass die Enkel auf dieser Insel aus Kunstschnee allenfalls wenig taugen, lässt von allein auf ihr eigenes Versagen rückschliessen. Diese Last wird sehr oft dadurch erhöht, dass die Grosseltern auch schon finanziell eingesprungen sind.
Mit Wirtschaftswundergeld.
Das Ganze geschieht im Rahmen von Freizeit, Ferien, Vergnügen, Entspannung. Nichts dergleichen. Nach diesem Diskontinuum-Konzept werden höchstens Neurosen gezüchtet, abgesehen von einer Minderheit, die diesen Zirkus in einer ähnlichen Gleichmut bewältigt wie die eingeborenen Kinder Venezuelas.
So also sieht die Freiheit in der westlichen Zivilisation aus.
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