Der Jugendliche hängt am Smartphone über Stunden. Die Kopfhörer auf, die Daumen in Bewegung, die Augen starr auf den kleinen Bildschirm geheftet. Es ist kaum zum Aushalten. Findet sich denn keine bessere Einstellung dazu, als dass man nur die Nerven verliert? Vor Jahren benahmen sich Erzieher so, wenn die Zöglinge Comics lasen. Später dann der gleiche Vorgang beim Fernsehkonsum. Heute macht sich Erleichterung breit, wenn der Jugendliche ausnahmsweise eine Sendung schaut oder einen Comic zur Hand nimmt. Beides wird kaum mehr reguliert, allerdings kommen nun Pionierängste in dieser Smartphonesituation auf.
Dem Jungen ist leichter Autismus bescheinigt, das verschafft einem etwas Luft. Aber nicht ganz. In der Computerbranche dürfte er gefragt sein. Das beruhigt. Dennoch plagt uns die Unsicherheit, ob es ihm schadet. Immer wieder schreiten wir ein, leider oft überstürzt und aus einer Laune heraus. Das macht ihn kämpferisch. Wir finden ihn stur und unbelehrbar. Seine Überheblichkeit, mit der er unsere Sorgen quittiert, ist schwer zu ertragen, aber leicht zu verstehen, da er via Chat genau über das Konsumverhalten seiner Kollegen Bescheid weiss und sein Wissen wie eine Statistik handhabt, während wir bloss phantasieren und eine Normalität beschwören, bei der es für den Jungen auf der Hand liegt, dass sie im Verschwinden begriffen ist. Er nimmt die Regelmässigkeit, die er täglich bestätigt findet, als offenkundig neuen Gebrauch, vor dem wir uns genauso stur und unbelehrbar verschliessen.
In dieser neuen Gewohnheit vermuten wir dreierlei Belege, allerdings für etwas Anderes. Nämlich dafür, dass die meisten Eltern den Kampf in dieser Angelegenheit aufgegeben haben, so wie wir, wie zuzugeben ist, ferner dass sie die Enttäuschung und den Zorn nicht aushalten, wenn die Kinder bei Enthaltsamkeit herumstöhnen wie Junkies auf Entzug, und schliesslich dass Eltern ihre Regeln lockern, weil sie ihre eigene Freizeit und Erholung wichtiger finden, als es früher zulässig erschienen wäre. Eine mühsame Situation, wenn man täglich zusammenleben soll.
Da springt uns die Wissenschaft bei. Unentwegter Handy-Konusm verändere das Gehirn, bekommen wir in der Tagespresse zu lesen. Die Frustrationstoleranz sinkt, während die Bereitschaft zur Depression steigt. Das liegt daran, grob vereinfacht, dass der Konsum die Botenstoffe beeinflusst, die Glücksgefühle sinnvoll verteilen. Nicht zu vergessen die Schädlichkeit für die Augen, die auf Blickwechsel angelegt sind, fern und nah, hell und dunkel. Erleichtert und beinahe beschwingt markieren wir den Artikel durch, den fetten Titel sowie einschlägige Begriffe wie «Schlaflosigkeit», «impulsives Verhalten», «Depression» und auch «Neurotransmitter», damit die Wissenschaftlichkeit herausgestellt wird und wir als Erzieher in unserem Anliegen entlastet sind. Der Artikel wird ausgeschnitten, schliesslich gehört er dem Jugendlichen sogleich unter die Nase gestreckt. Ein Impuls, dem man in dieser Lage nur mit Mühe widersteht. Aber ich halte inne. Das Stück Papier bleibt auf dem Schreibtisch liegen, später stecke ich es zwischen die Bücher. Was hat mich abgehalten?
Im Text steht, man habe «nachweislich Handysüchtige» getestet. Dieser Nachweis wird nicht erläutert, ich habe ihn zu glauben. Und die Testreihe fand in Südkorea statt. Fraglich, ob diese Befunde auf hiesige Verhältnisse passen. Für Naturwissenschaftler zweifelsohne, für Kulturwissenschaftler nur bedingt bis keinesfalls. Aber meine Bedenken greifen tiefer.
Wissenschaft ist vom Wettbewerb durchsetzt wie die Gesellschaft überhaupt. Manche sagen, sie sei davon verzerrt. Der Wettbewerb fördert eine so genannte positivistische Haltung. Demnach werden vor allem Befunde vergütet, die als Neuheit greifbar dazukommen: Ein Erreger wurde gefunden, die neurobiologische Struktur für dieses oder jenes Fehlverhalten wurde dingfest gemacht. Dadurch geraten negative Sachverhalte aus dem Blick, wenn zum Beispiel ein Mangel ausgemacht wird, der ein bestimmtes Problem verursacht. Sackgassen sind, sobald sie unstrittig ermittelt sind, für das Fortkommen des Wissens nicht minder bedeutsam, aber weniger reizvoll und knallig für den Wettbewerb
Auch negative Befunde sind positive Befunde.
Und: Wo Wettbewerb herrscht, wächst Betrug. Seit seinem Einzug in den Wissenschaftsbetrieb sind vermehrt geschönte Daten aufgetaucht. Auch wurden Befunde überstürzt bekannt gemacht, damit der Zugang zu Geldtöpfen erhalten bleibt. So hat man kürzlich von einer Raupe vernommen, die Plastik verzehrt. Die Forscher jedoch versäumten es, ihren Kot zu untersuchen, weil sie unter Erfolgsdruck standen, wie nachträglich verlautet wurde. Das Tier soll den Kunststoff unverdaut ausgeschieden haben.
Vielleicht muss ich einfach die Gegendarstellung zu dieser Handy-Sache abwarten.
Im Übrigen tun Wissenschaftler so, als läge ihnen keine Moral persönlich am Herzen. Den Ethnologen möchte ich sehen, der sich in der Lage wähnt, er könne wertfrei über Frauenbeschneidung forschen. Daher würde es mich kaum verwundern, wenn herauskäme, dass die Forscher in Seoul allesamt Eltern sind, die mit ihren Kindern mitten in dieser Smartphonesituation stecken. Der gesamte Korpus an kritischer Theorie und Konstruktivismus hat, auch wenn er aus der Mode geraten ist, umfangreich herausgestellt, wie die persönliche Einstellung und die moralische Empfindlichkeit einzelner Forscher auf ihre Resultate Einfluss nehmen können.
Auch Wissenschaftler verteidigen wie alle Menschen bestimmte Grundwerte auf Biegen und Brechen. Das liegt daran, dass über die grundsätzliche Frage, wie wir gut leben sollen, keine Einigkeit herrscht.
Und es ist wohlgemerkt die Frage schlechthin, auf die die Wissenschaft jede Antwort verweigert.
Also hat sich diese Smartphonesituation für mich keineswegs gelöst. Die Lage ist so unbequem wie zuvor, denn nun habe ich mich zwischen zwei Unsicherheiten zu entscheiden: Entweder lebe ich damit, dass ich, wie alle, nicht weiss, wohin der übermässige Handykonsum führen wird, oder ich nehme unlauteres Wissen in Kauf und reihe mich bestgelaunt bei denen ein, die früher zum Beispiel warnten, übermässige Selbstbefriedigung lasse einen vorzeitig altern.
Je weniger das Druckmittel mit meiner Person zu tun hat, desto eher kann ich es gegen den Jungen in Anschlag bringen. Deshalb greifen wir gerne auf Wissensbestände zu oder auf Überzeugungen, die gerade so gängig sind. Aber das stinkt mir gewaltig.
Krämpfe dieser Art haben wir genug durchstanden. Sie gehören eigentlich in keine Familie.
Die Frage bleibt: Wie nur komme ich in dieser Sache zu einer Klarheit, die lebbar wäre? Von Wahrheit will ich gar nicht erst reden. Und wenn ich mich dann auf die faule Haut des Nachdenkens lege, fällt mir auf, dass die ganze Welt an Smartphones klebt. Und beinah jedes Alter. Ein Alleingang zur Lösung dieses Problems wirkt lächerlich in seiner blindwütigen Selbstbestimmung. Wie Dürrenmatt klarstellte: Was alle angeht, müssen alle lösen. Diese unverschämte Gleichschaltung wurde der Welt von niemandem aufgezwungen, geschweige denn angeordnet, sodass ich bezweifle, ob diese gigantische Welle an Nachfrage vorweg errechnet wurde. Auch Heimcomputer wurden erst verlacht. Daher scheint es mir einsichtig, dass die Smartphonisierung schlichtweg eine weitere Gangschaltung des Lebens bedeutet, wohin immer das führen mag.
Und so beschloss ich, in dem Jungen auf dem Sofa mit dem kleinen Bildschirm in der Hand einen Menschen von morgen zu sehen, der sich eine Art instinktiver Gewohnheit aneignet, bei der sich weltweit abzeichnet, dass sie irgendwann der Gesellschaft von hohem Nutzen sein dürfte.
Eine Aufgabe, für die ich ganz bestimmt nicht mehr vorgesehen bin.
Zum Glück? Leider?
Wie auch immer.
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