Menschen mit Paranoia befinden sich in guter Gesellschaft. Das meine ich wörtlich, denn die Gesellschaft als solche verhält sich genau wie sie.
Paranoiker entbehren den Spielraum, in dem wir Wahrscheinlichkeiten erwägen. Stattdessen rechnen sie mit Möglichkeiten in binärer Weise: Entweder besteht die Möglichkeit oder sie besteht nicht. Selbst im Dreissigsten Stockwerk wird ein Paranoiker die Fenster schliessen, wenn er die Wohnung verlässt. Denn die Möglichkeit, jemand könnte sich vom Dach abseilen, besteht durchaus, auch wenn ihre Wahrscheinlichkeit gleich Null ist.
Wir so genannt Neurotypische fragen nach dem Motiv und finden keins. Diebstahl scheidet aus, denn Aufwand und Ertrag gehen nicht auf. Diese paranoiden Bedenken würden plausibler, wenn der Wohnungsinhaber einschlägige Bekanntheit geniesst oder auf globaler Ebene in dubiosen Kreisen mitmischt. In solchen Fällen wäre eher mit derartigen Verrücktheiten zu rechnen. Ferner stellen wir die Risiken in Rechnung, die jemand für ein derartiges Unterfangen auf sich zu nehmen hätte. Zum Beispiel könnte er ja gesehen und gemeldet werden, wenn er da an der Fassade herumturnt.
Diese binäre Situation erinnert an die Pascalsche Wette. Der Mathematiker und Philosoph bejaht damit auf logischem Wege die Frage, ob es zweckmässig sei, dass wir an Gott glauben. Dafür ordnet er zwei binäre Situationen einander zu: Es gibt Gott oder nicht. Und: Ich glaube an ihn oder nicht. Gibt es ihn nicht, so ist meine Haltung gleichgültig, es winkt kein Gewinn, es droht kein Verlust. Im gegenteiligen Fall führt der fehlende Glaube unweigerlich zu Verdammnis, also zu Verlust. Die Regel ist klar, eine Binsenwahrheit: Man rechne mit dem schlimmsten Fall.
Die Wette verhilft also dazu, dass man in einer bestimmten Angelegenheit höchste Sicherheit erlangt.
Genauso gehen Paranoide vor. Diese Wette ist, wie gezeigt, keineswegs irrational, sondern streng vernünftig, eben mathematisch. Das scheinbar Krankhafte liegt demnach darin, dass Paranoide sie auch in alltäglichen Bereichen befolgen, die für belanglos gelten, weil dort aus unserer Sicht nichts auf dem Spiel steht.
Vernünftiges ist auch ökonomisch. Nicht von ungefähr wird die Pascalsche Wette im heutigen Risikomanagement berücksichtigt. Und da findet sich auch die Verbindung zur Gesellschaft. In Ämtern, Verwaltungsräten und ihren Exekutiven, somit auf Kaderstufe politischer wie privatwirtschaftlicher Ausrichtung besteht Grund genug, dass man auf der sicheren Seite verbleibt, schliesslich wird immense Verantwortung geschultert. Der Kalte Krieg zeigt beispielhaft, wie auf der Grundlage von Vermutungen, Gerüchten und falsch gelegten Fährten sicherheitshalber der schlimmste Fall für handlungsweisend genommen wurde. Bei Paranoikern wie auch bei Gesellschaften, die unter Druck stehen, kommt die dauernde Unsicherheit dazu, dass sie nie die Gewähr dafür haben, ob sie über sämtliche Informationen verfügen, die zum Errechnen des schlimmsten Falles nötig sind.
Paranoiker und Gemeinwesen unter Druck sind gleiche Fälle. Interessant wäre ein Vergleich der Gefahrenquellen. Bei Paranoikern: Stimmen der Vergangenheit, nachhallendes Trauma, schlimme Träume und Ahnungen, die ungemeldet auftreten. Im Falle von Staaten: Benachbarte Gegner, politische Unwetter, die jederzeit aufziehen, hohe Bevölkerungsdichte bei niedrigem Wohlstand.
Es gilt anzuerkennen, dass es Menschen gibt, die nur dann gelöst sind, wenn sie sich in jeder Hinsicht auf der sicheren Seite wissen. Einschlägige Erfahrungen sind zu vermuten, ohne dass man genau Bescheid darüber bräuchte, ebenso natürlich bedingte Empfindlichkeit, die solche Menschen zu mehr Vorsorge nötigt als vielleicht üblich.
Die Pascalsche Wette betoniert die Lage ein. Ein Paranoiker hat damit kein Problem. Lieber friert er sein Leben ein, als dass er Unsicherheit ausgesetzt wäre.
Andererseits sind Leute zu respektieren, die unter ständiger Sicherheitsvorkehrung verkümmern.
Auch sie haben wohl Gründe dafür, die sie sich nicht ausgesucht haben.
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