Süchtige lassen sich leicht aburteilen. Allzuleicht, meine ich. Das Urteil sitzt locker, über andere, über sich selbst. Aber kaum jemand weiss Bescheid über die verbindlichen Kennzeichen von Sucht, wenn zwischen Tür und Angel hart ausgeteilt wird. Fachleute jedenfalls zögern mit diesem Urteil. So gilt es etwa als verlässliches Zeichen für Sucht, wenn jemand wider besseres Wissen Folgen wählt, die sich nachteilig auf sein Leben auswirken. Wenn man das genau besieht, wird die Person damit für irrational und folglich für unmündig erklärt. Denn wer bei Verstand ist, wählt keinesfalls Dinge, die sich zu seinem Nachteil auswirken. Nun gibt es sehr wohl Situationen, wo man bewusst Möglichkeiten ergreift, die uns zum Schaden gereichen. Wenn zum Beispiel Martin Grey im Warschauer Ghetto oder in Treblinka dürftige Möglichkeiten zum Überleben risikoreich und alternativlos beim Schopf packte, indem er zum Bespiel auf die Sekunde genau rechtzeitig vom Zug sprang, der ihn deportieren sollte. Oder wenn sich ein Kämpfer mit zerfetztem Bein eine Überdosis Morphium spritzt, da er von Feuer umzingelt ist und keine Rettung zu ihm vordringt. Diese Beispiele dürften empören. Schliesslich handelt es sich hierbei um Menschen, denen in höchster Not keine Wahl bleibt.

Süchtigen unterstellen wir also, sie hätten sehr wohl eine Wahl. Einfach so.

Aber wir wissen selten bis nie, ob wir im Einzelfall über sämtliche einschlägigen Informationen verfügen, die zu diesem Schluss berechtigen würden. Überdies unterstellen wir eine Charakterschwäche, aus der heraus Süchtige inständig die falsche Wahl treffen. Vielleicht folgen wir einfach dem Fingerzeig und nehmen Süchtige als Menschen, die in höchster Not keine Wahl haben. Oder, aus Rücksicht auf die genannten Beispiele:

Süchtige sind Menschen, die in hoher Not keine Wahl haben.

Dazu der Idealfall Christiane F. Idealfall deshalb, weil er der Sache beispielhaft dient. Die Situation, die sie flieht, ist rasch umrissen: Desinteresse der Mutter, ein Scherbenhaufen von Ehe, Misstrauen zum Freund der Mutter, Wegzug der Schwester, enge Wohnung in einem Gropius-Bau, wo die Kinder lieber in die Fluren kacken, als dass sie sich wegen voller Hosen verprügeln liessen, wenn sie es einmal mehr nicht in den zwanzigsten Stock hoch schaffen. Dieses Beispiel ist auch deshalb ergreifend, weil in Gropius’ Reformplänen eine derartige Höhe gar nicht vorgesehen war. Sie rührt von der Teilung Deutschlands her, genauer von der Einmauerung Westberlins, wo bald Mangel an Wohnraum herrschte und ausserdem zusätzliche Grünflächen nötig wurden. Das Quartier wirkt heute heruntergekommen. Beim Besuch traf ich eine alte Frau an, die Krähen mit Brotstücken fütterte. Die Misere lässt sich auf einen Nenner bringen: Einsamkeit und Missachtung. Wer angesichts der harten Grenzfälle, die ich zum Vergleich anführte, zu mehr Bescheidenheit rät, verbietet jedes Klagen, das nicht an diese höllische Not heranreicht. Genügt es denn nicht, wenn wir davon ausgehen, dass in beiden Fällen, beim Kämpfer im Feuer wie bei Süchtigen am Bahnhof Zoo einfach kein würdiges Leben möglich ist? Die Sache der Fixer unterscheidet sich graduell von der misslichen Lage, in der die Vernichtung der eigenen Person unmittelbar droht.

Aber darf ein extremer Fall die Nuancen grundsätzlich übertönen, die sich bis zum harmlosen Gegenbeispiel abstufen?

Das rührt an die Frage, wie wir der Welt gerecht werden können, in ihren verzwickten Zusammenhängen, in ihren Tendenzen, Ausnahmen und Grenzfällen. Das geschieht gewiss nicht, indem das äusserste Beispiel die vielen Zwischentöne andauernd mundtot macht. Der äusserste Fall steht genauso für sich, wie die vielen Nuancen an Notlagen für sich genommen gültig sind. Das hängt davon ab, was die betreffende Person im Vergleich zu dem durchsteht, was sie sich bis anhin gewohnt war. Der Kleine eines Freundes schrie allabendlich herzzerreissend. Mittels Ausschlussverfahren blieb eine einzige Erklärung übrig: Der Bub vertrug es nicht, wenn es abends dunkel wurde. Wir würden sagen, das sei doch kein Leiden.

Es ist aber eins.

Leider geht das nicht, dass man einen bestimmten Fall von Notlage für sich nimmt. Der Vergleich mit anderen wirkt immer mit. Das drückt das «Für» schon aus. Ohne Vergleich ist kein Verstehen möglich. Und die Menschen fürchten den Vergleich nicht, sie stehen sogar spielerisch darauf. Ganz besonders dann, wenn es ihre Person angeht. Aber sie scheuen das Urteil, das daran geknüpft ist. Und im Gegensatz zum Vergleich, der naturgemäss geschieht, haben wir es meistens in der Hand, wie wir urteilen. Dazu gibt es sogar Methoden: Die Lage einer Christiane F. lässt sich ebenso mit einer intakten Kernfamilie vergleichen, wie sie im Buche steht. So lässt sich ihre Notlage auf Anhieb begreifen. Je nach Vergleich wird sie als Opfer widriger Umstände in Schutz genommen oder als verkommene Täterin angeprangert, die aus Vorsatz handelt. Ich stelle mir vor, dass beides nervt, denn niemand sieht sich gerne politisch vereinnahmt, egal in welche Richtung.

Verstehen zieht in diesem Fall gerne ein klebriges Mitgefühl nach sich. Man wird jedoch Christiane F. und Süchtigen überhaupt erst gerecht, wenn man die Vorsätzlichkeit ihres Tuns würdigt. Und zwar als das, was sie ist.

Nämlich als Selbstbestimmung.

Damit verschärfe ich eigentlich ihre Straffälligkeit. Aber ich bin nur eine Person, die alltäglich urteilt. Eben moralisch, was letztlich verheerender wirkt als ein juristisches Verfahren. Zu bedenken ist jedenfalls, dass Freiheit, Würde und Vorsätzlichkeit nun einmal eng zusammenhängen.

Es ist schlichtweg beachtlich, mit welcher Entschiedenheit Christiane F. Grenzen überschreitet. Der Club Sound lockt als einziges Licht, das in dieses Dunkel scheint, sie lässt sich davon nicht einfach nur anziehen wie eine Motte, sondern gibt sich dahin die Sporen. Die weiteren Übertritte dienen dazu, dass sie Anschluss findet oder behält, denn der Weg zurück in die Gropius-Situation scheidet als eine Möglichkeit aus, die zumutbar wäre. Wie sie den ersten Trip nimmt, betrachtet sie sich im Spiegel, gibt sich zärtlich ihrem Bild gegenüber. Eine Ikone von Selbstbestimmung unter widrigen Umständen. Auch wenn der Film die Sache allenfalls überzeichnet, so hilft es doch meiner Würdigung auf die Sprünge, macht mich auf Sichtweisen aufmerksam, die nebst anderen, allzu bekannten möglich sind. Schliesslich nimmt die junge Frau Heroin, damit sie weiss, wie sich andere fühlen. Wie immer geht es um die Einheit mit anderen. In der Deutschlandhalle drängt sie zu David Bowie nach vorn, der den schönsten Tod in sich trägt, die vielfache Häutung des Selbst, die Christiane F. schon als 13jährige begehrt. Aus genannten Gründen.

Man darf sich fragen, warum es gleich Heroin sein muss. Nicht umsonst wird diese Droge Königin genannt. Sie tritt in dein Leben und setzt dir die Krone auf. Das bedeutet, sie nimmt dir die Ängste und lässt dich endlich lieben, was dir begegnet. Somit schafft sie einen Abstand zur trübseligen Umwelt, in der du verhaftet bist, vergleichbar mit meterdickem Bollwerk, das dich schützt und umhegt, wenn du selig fällst.

Die ersten Drogentoten führen der Jugendlichen abrupt die Lebensgefahr vor Augen, der sie ausgeliefert ist. Der Stoff kann gestreckt sein, Babypuder, Waschmittel. Auch die Dosierung bleibt heimtückisch. Sie flieht zurück, doch das Gropius-Nest nimmt sie nicht wirklich auf. Entzug und Anschaffen sind ungewollte Folgen dieser selbstbestimmten Übertritte. Man nimmt sie in Kauf, wie immer, wenn man souverän, eben heroisch nach vorne drängt und Folgen erntet, bei denen strittig ist, wie deutlich sie absehbar waren.

Eine Freundin von mir, sie heisst Colette, verzeichnet eine ähnliche Geschichte in ihrem Leben. Als Kind spielte sie mit Steinchen auf dem leeren Parkplatz ihrer Mutter, die alleinerziehend und berufstätig war. Der Vater hatte sich aus der Unterhaltspflicht gestohlen, indem er Immobilien überschrieb, die aber von Hypotheken derart belastet waren, dass kein Bares zum Leben abzugreifen war. Ein verstörtes Selbstwertgefühl erschwerte die Berufswahl, auch fand die Jugendliche keine Freunde bis auf eine Kollegin aus der Nachbarschaft, der sie wie eine Klette anhing. Schliesslich schickte sie die Mutter nach Frankreich als Haushaltskraft. Wie sie zurückkam, hatte ihre Freundin zu Leuten Kontakte geknüpft, die Trips nahmen. Nun stand Colette wie Christiane F. vor dem Schritt, dass sie Anschluss nicht nur fand, sondern zugleich auch behielt, wobei der Weg zurück keine lebbare Möglichkeit bot. Also nahm sie Trips und verfing sich darin, sodass sie am Kiosk, wenn sie Rückgeld in die Hand bekam, die Finger bewusst schliessen musste, damit sie keine Verwirrung stiftete. Von der Mutter war keine Stütze zu erwarten, diese sah sich zusätzlich belastet mit einem Problem von Schwergewicht. Nichts half.

Die Erlösung schliesslich brachte das Heroin.

Süchtige befinden sich in bester Gesellschaft, wenn sie mit Folgen ihrer Übertritte zu tun bekommen, die sie nicht mitgewählt haben. Seit je lösen Menschen ihre Probleme souverän und selbstbestimmt, aber sie handeln sich dadurch neue Schwierigkeiten ein, bei denen die Erwartung, man hätte sie voraussehen müssen, zwar im Rückblick leicht gefasst, vorweg aber oft übermenschlich wäre. So sieht persönliche Souveränität nun einmal aus. Solange es handfeste Gründe gibt, die dir auch schlechte Folgen einbringen, wenn sie dich über Grenzen hinausschieben, finden Warnungen einfach kein Gehör. Von aussen gesehen kann niemand schlüssig beurteilen, wie weit eine Person eigenmächtig Grenzen übertritt oder vom Leben darüber geschoben wird. Die intime Sicht von innen macht die Sache auch nicht klarer. Manchmal weiss man selber nicht, welcher Grund ausschlaggebend war.

Diese Argumente zum Verständnis von Süchtigen dürften einigen Leuten schlicht zuwider sein. Sie weigern sich, darin eine Selbstbestimmung zu erkennen. Mündigkeit bedeutet für sie ein höchstes Gut. Auch sie haben Gründe dafür, über die sich genauso mutmassen liesse. Wenn sie Sucht als eine Form von Unmündigkeit bewerten, haben sie sich immerhin damit abzufinden, dass Süchtigen ebenso ihre Würde bleibt wie Komapatienten oder Säuglingen im Brutkasten, die vollständig unmündig sind.

So will es jedenfalls das Menschenrecht.