Wie kommt es, dass eine Privatperson zu später Stunde entnervt das Teilstück einer Strasse vom Typ Durchgang einschliesslich Gehsteig kehrt? Erst dachte ich an einen empfindlichen Anwohner, der mit dem Landleben nicht klarkommt. Mit dieser Vermutung lag ich fehl, denn wenig später sah ich ihn mit dem Besen über der Schulter davon marschieren. Vielleicht ein Landwirt, der Spuren seines Transports beseitigt.
Diese Vermutung erhärtete sich, als ich mich erinnerte, wie kürzlich eine Gruppe von Leuten auf einer Sozialen Plattform sich leicht genervt darüber austauschte, dass die Wege über Land von der Bauernschaft so verdreckt seien.
Beim konkreten Fall, dem ich begegnet war, hatte ich keine Gewähr für diesen Zusammenhang. Dennoch erscheint er glaubhaft und lädt zu einem kleinen Weltspiel:
Auf beiden Seiten zeigt man sich genervt. Nun ist es schlichtweg der Fall, dass niemand aus einer Reserve heraus seinem Ärger Luft verschafft, als verfügte er über einen Spielraum, wo ihm auch andere Wahlmöglichkeiten offenständen. Vielmehr wird gehadert, weil man selber beengt ist, dem Übeltäter jedoch genau diesen Spielraum unterstellt. Demzufolge ist der Bauer auf Kosten urbaner Spaziergänger unsorgfältig vorgegangen. Genauer beruht seine scheinbare Nachlässigkeit darauf, dass er es für wenig dringend erachtete, eine Möglichkeit zu nutzen, bei der die Bedürftigkeit urbaner Spaziergänger berücksichtigt worden wäre.
Umgekehrt findet der Bauer seine spiessigen Kritiker aus dem gleichen Grund überheblich. Es fällt ihm nicht ein, die Spaziergänge über Land könnten für städtische Leute eine lebensnotwendige Bedeutung haben, vergleichbar mit Luftlöchern für Seehunde. Immerhin befinden sich auch diese Menschen in bestimmten Druckverhältnissen.
Keine der Parteien geht davon aus, dass die andere unter Druck steht, dass ihr Vorgehen mit einem Engpass zu tun haben könnte statt mit Wahlmöglichkeiten. Beide überschätzen sich in ihrer Lage. Das heisst, sie schätzen einander falsch ein. Eigentlich eine unverschämte Peinlichkeit, wenn man die Anspannung bedenkt, die das verursacht, und in Rechnung stellt, dass beide Parteien viel auf ihre persönliche Souveränität geben.
Woran mag diese Fehleinschätzung liegen?
Vielleicht bildet der Ärger den Grad an bitterem Verzicht ab, den jemand täglich leistet, damit er angepasst lebt. Daher nimmt er sofort Witterung auf in Situationen, die eine Lesart erlauben, wonach jemand den nämlichen Verzicht verweigert und lieber entspannt und verwöhnt zu Lasten anderer vorgeht.
Man entbehrt Annehmlichkeiten zugunsten aller. Wehe denen, die sich über diesen Dienst hinwegsetzen. Das klingt doch etwas rückständig. Aug um Auge. Ein Freund von mir meinte, wir lebten in restaurativen Zeiten. Hierzulande würde das Erholung bedeuten, indem man sich bei einem kühlen Bier wiederherstellt. Tatsächlich geht es jedoch darum, dass alten Werten zu neuer Gültigkeit verholfen wird. Verhaltensregeln, die im bunten Treiben des ausgehenden Jahrtausends in Vergessenheit gerieten, setzen erneut Massstäbe. Die neue Unübersichtlichkeit im Zuge weltweiter Turbulenzen trägt das Ihre dazu bei.
Das Volkswohl leidet in diesen Druckverhältnissen. Darüber lässt sich täglich nachlesen.
Doch nichts bleibt, wie es ist, um eine Plattitüde zu bemühen. Der Rhythmus der Geschichte, ihre Gezeiten, ihr Atem, buddhistisch gesprochen, legen nahe, dass nach der Anspannung eine Regeneration folgen wird.
Die Frage ist nur, wann.
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